Neustart im Regen

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Mancher Bildungsweg ist wie eine Schnellstraße zum Ziel. Wer aber auf steinigen Umwegen unterwegs ist, braucht die richtige Begleitung, um in die Spur zurückzufinden. Und mit ein bisschen Glück gibt’s zum Abitur die große Liebe gleich dazu wie bei Swetlana und Kevin.

[Text: Kai Uhlemann | Foto: Vanessa Pegel]

Was treibt Menschen dazu, ihre Zeit und all ihr Geld in einem Spielsalon zu versenken? Welche Spuren zeichnen die schmalen Gewinne und vielen Verluste in ihre Gesichter? In welcher Haltung betreten sie den Laden und wie gehen sie raus, wenn ihr Limit erreicht ist? Swetlanas Arbeitstage im Spielsalon boten Stoff für ein ganzes Studium. „Psychologie – das wär’s!“, dachte sie sich, während sie von Gästen angepöbelt wurde, wenn’s bei denen gar nicht lief. Doch den Highway zum Abitur hatte sie vorzeitig verlassen. Statt zur Schule zu gehen, war Partymachen angesagt, allen Mahnungen von Oma zum Trotz. Als sie die elfte Klasse erfolglos wiederholt hatte, war dann erstmal Schluss mit der schulischen Qual. Ohne Abi startete sie eine Technikausbildung bei einer Behörde. Der Job war derartig sicher, dass sogar ihre Oma endlich Ruhe gab – bis Swetlana ihn an den Nagel hing, um kurz vor der Dreißig mit einem Work and Travel-Visum nach Australien zu düsen. „Das ist doch der pure Unsinn!“, schimpfte ihre Oma. Nur Swetlanas Mutter hielt wie immer zu ihr, als sie anderthalb Jahre down under verbrachte und nach ihrer Rückkehr in diesem Spielsalon anfing.

Wenn der Name alles sagt

Kevin hatte derweil ein anderes Problem – eigentlich gleich mehrere. „Verhaltensauffällig und leistungsschwach“ ist das, was 94 Prozent von 500 befragten Grundschul-Lehrkräften mit seinem Vornamen verbinden. Einer Masterarbeit zufolge ist Kevin „kein Name, sondern eine Diagnose“ – dabei hatte sein äthiopischer Papa nur etwas Einfaches Englisches als Zweitnamen gesucht. Mit Diagnosen kennt Kevin sich mittlerweile aus: Auf eine kurze Schulkarriere folgte eine Lehre als medizinischer Assistent. Weil ihm die Arbeit im Labor gut gefiel, aber zu eintönig erschien, spekulierte er darauf, ein Studium dranzuhängen. Das wäre zwar auch ohne Abi gegangen, hätte aber ein weiteres Schuljahr gekostet und die Auswahl an möglichen Fächern beschränkt. Also lieber ein echtes Abitur und danach das Studium, am liebsten Medizin. „Aber wie stelle ich das an?“, fragte sich der 26-Jährige. 

Gebührenfrei zum Abitur

Als er vom gebührenfreien Abendgymnasium in Göttingen erfuhr, war er sofort begeistert. Auch dessen Name führt wie Kevins leicht in die Irre, denn der Unterricht findet wahlweise auch morgens statt. Wahlweise gibt es die Abitur-online-Kurse: Dabei ist man an nur drei Abenden pro Woche in der Schule, die beiden anderen verbringt man zu Hause mit Aufgaben am eigenen Rechner – eine Online-Lernplattform macht’s möglich. Das „Blended-Learning“ wird von den Lehrkräften übers Netz genauso intensiv betreut wie der Präsenzunterricht. Gebührenfrei? Kaum zu glauben, doch es stimmt! Also meldete Kevin sich an und legte los. Der Auftakt war freundlich-familiär, doch der Wiedereinstieg ins Lernen alles andere als einfach. Die ersten zwei, drei Monate gestalteten sich schwierig, auch wenn Familie und Freundschaften ihn nach Kräften unterstützten. Aber er hielt durch und fand seinen Rhythmus. Die ersten eineinhalb Jahre arbeitete er neben dem Abendgymnasium weiter im Labor, bis er dort kündigte und alle möglichen und unmöglichen Nebenjobs annahm: Als Nachtportier, im Getränkehandel, sogar als bezahlter Tester für Zahnpasta verdiente er seine Brötchen.

Von der Spielothek zur Einschulung

Als Swetlana von der Südhalbkugel zurückkehrt, landete sie hinter der Theke im besagten Spielsalon. Und sah von dort aus, wie Menschen ihr Leben verzockten, wechselte deren Kleingeld und legte das amtliche Faltblatt gegen Spielsucht aus. Dessen vielsagender Titel: „Wenn’s aufhört, Spaß zu machen.“ War es dieser Flyer oder einer dieser Leute, der sie aus ihrem Stillstand befreite? Sie recherchierte, ließ sich beraten und landete – na, wo schon? – im Abendgymnasium Göttingen! Als sie mit dem Fahrrad direkt von der Spielhalle zur Einschulung düste, regnete es in Strömen. Aber sie biss die Zähne zusammen, wie immer schon. Von jetzt an zählte jeder Arbeitstag doppelt: Frühmorgens in den Spielsalon, wo sie sich mit ihrem Handy um die Hausaufgaben kümmerte, nachmittags um vier direkt zur Schule, dann Lernen bis abends um zehn. Natürlich fiel auch sie in manches Tal. Doch wenn ihr die Aussicht mal völlig verloren zu gehen drohte, kam ihr „die Puritz“ zu Hilfe. 

Die Rettung, wenn gar nichts mehr geht

„Die Puritz“, Vorname Christiane, ist Lehrerin am Abendgymnasium und dazu eine Überzeugungstäterin im wörtlichen Sinn. Sie kennt die anspruchsvolle Berg-und-Tal-Fahrt dieses Bildungsmarathons, die schwierigen Wechsel zwischen Euphorie und Bauchlandung. Und sie weiß um die große Bedeutung, die das Begleitprogramm mit Schulfesten, Grillabenden und Ausflügen für den Weg zum Erfolg hat. Rund 30 Prozent halten bis zur Ziellinie durch, andere steigen nach dem Fachabitur aus oder wenn Kraft und Ausdauer unterwegs verloren gehen. Swetlana zählte zum harten Kern und meisterte alle Tiefen. Am Ende reichte ihre Power sogar, um gemeinsam mit Kevin die Abschiedsparty zu organisieren. Als sie ihn zum ersten Mal sah, war sie überrascht: Kevin? Für diesen Namen scheint seine Haut eine Spur zu dunkel … Und auch er staunte über sie – mit ihrem coolen Auftreten und ihren derben Flüchen hielt er sie glatt für eine Gangsterbraut. Der Morgen danach bringt beiden ein unerwartetes Erwachen: Im nächtlichen Durcheinander kam ihr Kopf auf seinem Arm zum liegen. So wird der Abschied vom Abendgymnasium schließlich zum Anfang einer Geschichte, die sie beide bis heute in Atem hält: Der Beginn einer großen Liebe zweier verspäteter Abiturient*innen, die mittlerweile Medizin und Psychologie studieren.

 

Du hast es ebenfalls bisher verpasst, Dein Abitur zu machen und spielst mit dem Gedanken, es nachzuholen? Dann findest Du hier weitere Infos: abendgymnasium-goettingen.de

 

 

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