Die Gesundheitsdiktatur der Juli Zeh
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In ihrem dystopischen Zukunftszenario Corpus Delicti beschreibt Juli Zeh mit fulminanter Wortgewalt einen totalitären Überwachungsstaat, in dem sich gesundheitspolitische Ziele verselbstständigt haben und gute Absichten schleichend zu bösen geworden sind. Jüngst hat das Junge Theater ihre Gesundheitsdiktatur in fesselnderweise auf die Bühne gebracht. Wir sprachen mit Juli Zeh über das Zusammenspiel von Gesundheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Zufriedenheit.
Wie definierst Du Gesundheit, liebe Juli?
Am ehesten als eine individuelle Balance.
Also hängt Gesundheit auch mit innerer Zufriedenheit zusammen?
Sehr sogar. Ich glaube, das meiste, was wir mit dem Begriff „Krankheit“ bezeichnen, sind in Wahrheit mindestens zum Teil psychosomatische Erscheinungen. Deshalb bin ich der Ansicht, man sollte die Psychosomatik viel mehr in die Medizin mit einbeziehen, als man das eh schon tut, weil Zufriedenheit wirklich sehr wichtig ist für das, was wir Gesundheit nennen.
Bist Du zufrieden mit Deinem Leben?
Ja, total! Ich habe sogar das Gefühl, unangemessen gut bedient worden zu sein. Ich habe ein starkes Gefühl von Dankbarkeit und ein großes Empfinden für den Luxus, den meine Existenz bedeutet. Ich bin sogar mehr als
zufrieden.
Die von Dir erdachte Methode in „Corpus Delicti“ geht davon aus, dass es dem Menschen gut geht, solange er sich körperlich fit hält und ansonsten keinerlei Risiko eingeht. Was macht ein gutes Leben für Dich aus?
Vor allem Freiheit ist ein wichtiges Kriterium für ein gutes Leben. Und dafür müssen ein paar Voraussetzungen erfüllt sein: Beispielsweise dass man nicht bettelarm und halbwegs gesund – also nicht komplett ans Bett gefesselt – ist, und dazu gehört auch, dass man von seinen inneren Geschicklichkeiten so aufgestellt ist, um mit Freiheit überhaupt etwas anfangen zu können.
In Corpus Delicti beschreibst Du einen totalitären Überwachungsstaat. Wo hört Deiner Ansicht nach Sicherheit auf und fängt Überwachung an?
Es gibt keine Grenze, sondern nur fließende Prozesse. Man kann immer eher im Rückblick festmachen, wo der Totalitarismus möglicherweise angefangen hat. Das Einzige, was man machen kann, ist zu sagen: Freiheit oder überhaupt friedliches gesellschaftliches Zusammenleben funktioniert nur als Ergebnis eines Balanceakts, und wenn man anfängt, diese Balance zwischen Freiheit und Sicherheit immer stärker in die eine Richtung zu verschieben, dann setzt man sich der Gefahr aus, dass es irgendwann umkippt.
Was lässt gute Absichten schleichend zu bösen werden?
Die Tatsache, dass Zusammenleben Konflikte erzeugt und Menschen Interessen durchsetzen wollen. Und wenn jemand die Grenze des für den anderen gefühlt Zulässigen überschreitet, kann das schnell dazu führen, dass er es in einem Akt der Selbstverteidigung oder Rache ein bisschen übertreibt, und der nächste übertreibt wieder, und dann stachelt sich das hoch, bis irgendwelche Katastrophen passieren. Das ist jetzt vereinfacht ausgedrückt, aber ich glaube schon, dass sich das sogenannte Böse – der Begriff ist ja eh ein bisschen fraglich – am ehesten so erklären lässt und nicht mit dem Wunsch nach Sadismus. Ich glaube, es gibt sehr wenige Menschen, die wirklich von Natur aus Spaß daran haben, andere zu quälen. Wenn das so wäre, gäbe es die Menschheit, glaube ich, schon
lange nicht mehr.
Also ist „das Böse“ auf Ungerechtigkeit zurückzuführen?
Genau. Auf eine immanente Ungerechtigkeit, die man nie ganz ausschalten kann. Das liegt daran, dass wir, jeder für sich, subjektive Wesen sind, das heißt, wir haben keine objektive Grundlage, die wir teilen, wo irgendwo geschrieben steht, was denn gerecht ist. Alle definieren das ein bisschen anders, und daraus entstehen Konflikte.
Ist also Gerechtigkeit Auslegungssache?
Natürlich. Gerechtigkeit ist eigentlich eine Fiktion. Man kann Gerechtigkeit überhaupt nicht ausformulieren. Gerechtigkeit würde
Allwissenheit voraussetzen, und die hat nun mal keiner von uns.
Spielt deshalb immer die Frage nach Recht und Unrecht in Deinen Büchern eine Rolle?
Total. Das ist ein Dauerthema. Die Frage danach, was Recht und Unrecht eigentlich ist, sein kann und wo es herkommt. Es gibt ja ganz unterschiedliche Ebenen. Wie gesagt, glaube ich, dass Menschen von Natur aus ein Gerechtigkeitsgefühl haben, also ein Gefühl dafür, ob sie sich gerecht oder ungerecht behandelt fühlen. Aber es gibt auch so etwas wie den Versuch von gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Da hört es dann mit den Gefühlen irgendwie auf, und es werden die verschiedensten Theorien und ideologischen Gedankengebäude herangezogen. Und genau das interessiert mich: wie wir dazu kommen, bestimmte Voraussetzungen für unser Zusammenleben zu definieren.
Deinem Sternzeichen, Krebs, unterstellt man ein übermächtiges Verlangen nach Sicherheit. Trifft das auf Dich zu?
In Beziehungen würde ich das schon sagen. Beispielsweise würde ich es schlecht aushalten, eine Beziehung mit jemandem zu haben, auf den ich mich nicht verlassen kann. Da habe ich ein großes Bedürfnis nach Verlässlichkeit und Vertrauen und solchen Faktoren. Das empfinde ich auch als das eigentliche Wesen von Sicherheit: Vertrauen, Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit.
Über Deine beiden Protagonisten in Deinem Roman „Spieltrieb“ schreibst Du, sie seien keine Nihilisten, sie seien schlimmer, denn Nihilisten glauben immerhin, dass es etwas gäbe, an das sie nicht glauben können. Woran glaubst Du?
An ziemlich viel. Ich glaube zum Beispiel an das Gute im Menschen. Menschen sind nicht die aggressiven Wölfe, die Thomas Hobbes in seiner Theorie gezeichnet hat. Wir sind in Wahrheit von unserer Grundaufstellung her eher soziale Wesen, die zu Empathie fähig sind, die sich ineinander einfühlen können und die grundsätzlich eigentlich erst mal wollen, dass es allen Mitgliedern der Gruppe einigermaßen gut geht. Ich glaube, wir werden mit einem Gerechtigkeitsgefühl geboren.
Wir bedanken uns herzlich für das Gespräch!
PS: Das Interview mit Juli haben wir bereits 2009 geführt, aber es hat keineswegs an Aktualität verloren. Ganz im Gegenteil.
Supertipp:
Corpus Delicti
23. und 27.05. um 20 Uhr im Jungen Theater
Die clevere Bühnenfassung von Kalma Streun, Nico Dietrich und Christian Vilmar im Jungen Theater empfehlen wir Euch wärmstens! Das Ensemble taucht in fesselnder Weise in die Methode ein: Dorothea Röger als systemkonforme Mia Holl, die sich radikalisiert, als ihr systemkritischer Bruder Moritz, gespielt von Michael Johannes Mayer, dem diktatorischen Staatsapparat zum Opfer fällt. Agnes Giese als leidenschaftliche Richterin, die nicht zum Henker werden will. Götz Lautenbach als süffisanter Storytelling-Todesengel und Jens Tramsen als Rechtsanwalt Lutz Rosentreter, der sich gegen die Methode zur Wehr setzt, weil er nicht lieben darf, wen er lieben will.
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