Gewalt gegen Frauen
#Macht+Protest #Gleichberechtigung #Femizid #Lokales #Frauenpower
Alle vier Minuten übt in Deutschland ein Mann Gewalt gegen seine [Ex-]Partnerin aus. Jede dritte Frau wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt. Zur Verhütung und Bekämpfung derartiger Übergriffe trat in Deutschland bereits 2018 die sogenannte „Istanbul-Konvention“ in Kraft. Doch was wurde davon bisher realisiert? Viel zu wenig.
[Text: Marie Bullerschen | Illustration: Fräulein Freud]
Der Begriff der „Sisyphosarbeit“ zählt zu den geflügelten Worten der deutschen Sprache. Geflügelte Leichtigkeit sucht man in diesem griechischen Mythos allerdings vergebens. Sisyphos war dazu verdammt, auf ewig einen Felsblock auf einen Berg hinaufzuwälzen – doch kaum ist ein Ende der Mühen in Sicht, rollt der Fels auch schon wieder ins Tal. Als eine solch scheinbar ertraglose Tätigkeit, ohne jemals über den Berg zu kommen, wird immer wieder auch die Gleichstellung der Geschlechter erachtet. Die sogenannte Istanbul-Konvention birgt immerhin die gesetzliche Grundlage, um endlich Schwung in die Sache zu bringen. „Sie ist das feministischste Rechtspapier, das wir gerade haben“, sagt Anna Maierl, die Koordinatorin zur Umsetzung der Istanbul-Konvention [IK] für die Stadt Göttingen. Selbige bezieht sich explizit auf Frauen bzw. auf alle Geschlechter, die nicht endo-cis-männlich sind, also auch inter, trans und nicht-binäre Personen [wirf dazu auch gerne einen Blick in unseren Gender-Duden auf Seite 31].
Gesellschaftliches Versagen mit oft tödlichem Ausgang
Noch immer betrachteten viele Menschen Gewalt gegen Frauen als soziales Randproblem. „Dabei stammen die Täter nachweislich aus allen gesellschaftlichen Kreisen und Bildungsschichten“, betont Susanne von Bassewitz von der global agierenden Nichtregierungsorganisation Zonta, die sich seit ihrer Gründung 1919 für die Rechte von Frauen einsetzt. „Anstelle von Hilfe, Schutz, Solidarität und Rechtssicherheit erfahren Betroffene eine permanente Täter-Opfer-Umkehr und Stigmatisierung. Dieses gesellschaftliche Versagen endet statistisch gesehen jeden zweiten bis dritten Tag für eine Frau in Deutschland tödlich.“ Die Istanbul-Konvention bzw. das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, wie der offizielle Titel des etwa hundertseitigen Dokuments lautet, wurde bereits im Jahr 2011 in Istanbul ausgearbeitet. In Deutschland ist es seit Februar 2018 geltendes Recht. Doch was macht dieses Übereinkommen so besonders? Direkt in der Präambel erkennen die unterzeichnenden Staaten an [derzeitig sind es 45], dass es sich bei geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen eben nicht „nur um Einzelfälle“, sondern ein strukturelles Problem handelt und es damit eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Außerdem führt die Istanbul-Konvention die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern als eine wesentliche Maßnahme zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen auf.
Gleichstellung wird zur Pflicht
Durch die Ratifizierung der Konvention wird die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt per Gesetz zur Aufgabe des Staates. Konkrete Maßnahmen müssen sich an den drei Säulen der Konvention orientieren: Erstens die Gewaltprävention, zweitens der Opferschutz und drittens die Strafverfolgung. Immer wieder taucht in dem Papier auch der Begriff der „ganzheitlich koordinierten Politik“ auf. Um diese zu gewährleisten, fordert das Übereinkommen die unterzeichnenden Staaten dazu auf, sowohl auf Bundes- und Landes- als auch auf kommunaler Ebene Stellen einzurichten, die die Umsetzung der Vereinbarungen koordinieren. Doch auch wenn die Ratifizierung der IK in Deutschland nun schon fast sechs Jahre her ist – hat sich diesbezüglich seither sehr wenig getan. Neben Oldenburg sind die Stadt und der Landkreis Göttingen bisher die einzigen Gemeinden in Niedersachsen, die Koordinator*innen zur Umsetzung der Istanbul-Konvention beschäftigen. Auch auf Bundes- und Landesebene steht die Einrichtung von Koordinierungsstellen noch aus, wie auch der niedersächsische Sozialminister Andreas Philippi [SPD] in einer Rede betonte.
Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung
Die Steine, die Anna Maierl vom Gleichstellungsbüro der Stadt Göttingen gemeinsam mit ihren Kolleg*innen versucht ins Rollen zu bringen, erscheinen bisweilen unbeweglich. Immer wieder muss Anna aufs Neue erklären, dass es geschlechtsspezifische Gewalt tatsächlich auch hier bei uns in Deutschland gibt und dass es sich dabei keineswegs um ein Randphänomen, sondern um ein strukturelles Problem handelt, welches unabhängig von Faktoren wie Herkunft oder sozialem Status auftritt. Anna und ihre Kolleg*innen klären auf, sie sensibilisieren und konfrontieren, damit die Themen „häusliche Gewalt“ und „Gewalt gegen Frauen“ in Politik und Verwaltung nicht unter den Tisch fallen. Darüber hinaus arbeitet Anna eng mit lokalen Frauenschutzeinrichtungen zusammen. Um möglichst treffsicher Hilfe anbieten zu können, wurde bis Ende 2023 eine Studie durchgeführt, in deren Rahmen erhoben wurde, welche Forderungen der Istanbul-Konvention in der Stadt sowie im Landreis Göttingen noch nicht ausreichend erfüllt wurden. Auf Basis der Erhebung soll dann ein Aktionsplan erstellt werden, der sich passgenau an den Bedarfen der Kommune orientiert.
Prävention ist Priorität?
Auch ohne die Ergebnisse der Studie zu kennen, ist für Anna klar: Verbesserungspotenziale gibt es im Gewaltschutzsektor viele. Da wäre zum Beispiel der Mangel an flächendeckenden Präventionsmaßnahmen. Unterstützungsangebote für akute Notsituationen gibt es zwar viele, und das ist auch gut so: Unter anderem die Frauenhäuser oder der Frauen-Notruf e.V. tragen einen unersetzlichen Teil zum Schutz vor häuslicher Gewalt bei, allerdings sind selbige in den meisten Städten und Kommunen überfüllt und es fehlt an Beratungskapazitäten. „Unser Zonta Club unterstützt seit vielen Jahren neben dem Frauen-Notruf Göttingen auch das hiesige Frauenhaus“, sagt Dr. Julie Kux, Vize-Präsidentin des Zonta Club Göttingen. „Hier hören wir immer wieder, dass diese Institution an ihre Auslastungsgrenzen stößt und Frauen an andere Orte geschickt werden müssen. Eine sichere Zuflucht finden die von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen und ihre Kinder also oftmals leider nicht.“
Außerdem bräuchten wir dringend mehr Bildungsarbeit in Schulen. Anna Maierl vom Gleichstellungsbüro ist überzeugt: „Es muss ein Recht für jedes Kind geben, in der Schule über so wichtige Themen wie Gleichstellung und Gewaltschutz aufgeklärt zu werden.“ Dafür fehlt es allerdings an Ressourcen aller Art – geschultes Personal und die notwendigen Gelder sind Mangelware. Wie schlecht es um die Finanzierung von Gewaltschutzmaßnahmen im Allgemeinen steht, zeigt folgendes makabre Dilemma: Wenn mehr Aufklärungsarbeit zum Thema „häusliche Gewalt“ geleistet wird, ist zu erwarten, dass eine größere Anzahl Betroffener die eigene Notsituation erkennt und Unterstützungsangebote in Anspruch nimmt. Das Problem: „Eine starke Steigerung der Unterstützungs-, Beratungs- und Bedarfsanfragen“, so Anna, „könnten wir gar nicht stemmen.“ Also lieber doch keine Präventionsarbeit leisten? Für Anna keine Option. Zwar werde der durch Aufklärungs- und Sensibilisierungsmaßnahmen erzeugte positive Backlash erst nach mehreren Jahren – wenn nicht sogar erst nach Jahrzehnten – sichtbar, langfristig würden Anbieter*innen akuter Unterstützungsleistungen jedoch entlastet. Wichtig sei deshalb, sowohl in Prävention als auch in Hilfsangebote zu investieren.
Verantwortungswirrwarr beim Kraftakt Gleichstellung
Ebenfalls hinderlich für den Kraftakt namens „Gleichstellung“ ist das häufig vorherrschende Säulendenken in Politik und Verwaltung. Zwar fordert die Istanbul-Konvention zu einer ganzheitlich koordinierten Politik auf – in der Praxis stapelt sich die Arbeit dann allerdings doch häufig auf den Schreibtischen der immer selben Ressorts und Dezernate. Anna ist allerdings überzeugt: „Gleichstellung und Gewaltschutz können aber nur mit allen zusammen vorangebracht werden.“ Auch mit Blick auf die Verwaltungsgliederung Deutschlands erweist sich die Aufteilung der Zuständigkeiten manchmal als frustrierend. Wenn es beispielsweise um Präventionsarbeit an Schulen geht, können die Kommunen relativ wenig ausrichten. Denn: Schulpolitik ist Ländersache. Ob sich Kinder und Jugendliche im Unterricht mit Fragen des Gewaltschutzes und der Gleichstellung beschäftigen, bestimmt daher vor allem das niedersächsische Kultusministerium.
Das Netzwerk Häusliche Gewalt
Was sich als ein großer Erfolg der Arbeit von Anna und ihren Kolleg*innen verbuchen lässt, ist das im Dezember 2022 gegründete Netzwerk Häusliche Gewalt für die Region Göttingen. Vernetzt wurden dabei vier bereits bestehende Arbeitskreise zum Fachbereich „Häusliche Gewalt“ in Göttingen, Osterode, Hann. Münden und Duderstadt. Ebenfalls mit am Tisch sitzen u.a. Mitarbeiter*innen des Jugendamts, von Krankenhäusern, Therapeut*innen, Anwält*innen und Polizist*innen. Auch diese Berufsgruppen können sich dem Thema oftmals nicht entziehen und sind daher wichtige Mitstreiter*innen. Eine Steuerungsgruppe, bestehend aus Anna und drei weiteren Institutionen, sorgt dafür, dass die Zusammenarbeit reibungslos funktioniert. Das Ziel: die Maschen des Netzes an Hilfsangeboten enger zu stricken, damit von häuslicher Gewalt Betroffene in der gesamten Region dieselben Chancen auf adäquate Unterstützung haben.
Gleichstellung geht nur gemeinsam
Es wird deutlich: Gewaltschutz und Gleichstellung erfordern starkes Durchhaltevermögen. Damit dieser Kraftakt nicht zur Sisyphosarbeit wird, sollten nicht bestimmte Verwaltungsebenen, Ressorts, Dezernate oder Einzelpersonen den Felsbrocken allein anschieben. Gleichstellung sowie die Beseitigung von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt sind Aufgaben, die sich nur gemeinsam bewältigen lassen. Es wird also höchste Zeit, dass auf allen Ebenen Koordinierungsstellen eingerichtet werden, damit feministische Handlungsspielräume erweitert und der bestmögliche Schutz für von Gewalt Betroffene gewährleistet werden kann.
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Mehr zur kommunalen Umsetzung der Istanbul-Konvention und die Adressen verschiedener Beratungsstellen findet Ihr hier: www.gleichstellung.goettingen.de. Weitere Infos über den Zonta-Club Göttingen gibt's hier: www.zonta-union.de. Die Nummer des bundesweiten Hilfetelefon bei Gewalt gegen Frauen lautet: 116016, den Frauen-Notruf Göttingen erreicht Ihr unter: 0551-44684.
PS an alle misshandelten Männer:
Weil es in unserer kruden Welt auch immer mehr Männer gibt, die von ihren Frauen misshandelt werden, hier auch noch eine Anlaufstelle für Euch: www.maennerbuero-hannover.de. Als Opfer jeglicher Formen von Gewalt könnt Ihr Euch außerdem an den Weissen Ring [goettingen-
niedersachsen.weisser-ring.de], die Stiftung Opferhilfe [www.opferhilfe.niedersachsen.de/nano.cms/opferhilfebueros/details/goettingen] wenden oder die Nummer des Hilfetelefons für Männer wählen: 0800-1239900.
PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 33. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins.
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