
Wie wohnen?_Teil 1
#Wohnen #Lokales #LebenLernen
Wer auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung ist, rennt gegen gentrifizierte Wände, stößt sich an Mauern aus Vorurteilen oder landet aus lauter Verzweiflung womöglich in einer Bruchbude der geplatzten Träume, wie dem sogenannten „Bunker“ oder der „Schlüpferburg“. Damit Ihr besser dran seid, liefern wir Euch in unserer neuen Serie Wie Wohnen? alternative Auswege für einen erfinderischen Einzug in ein lebens- und liebenswertes Zuhause. Im ersten Teil erzählt Euch unsere freie Autorin Melli von ihrem schönen Wohnen im GRÜNEN HAUS ANNER ECKE.
[Text: Melanie Krause | Illustration: Martin Melchert]
Ach, im Grünen Haus wohnst Du? Das kenne ich. Wie schön!“ So reagieren viele Menschen in Göttingen, wenn ich erzähle, wo ich lebe. Vielleicht ist es Euch auf dem Weg durch das Leineviertel schon einmal aufgefallen: Das Fachwerkhäuschen an der Ecke Marien- und Wiesenstraße mit der grünen Holzverkleidung, dem Space-Invaders-Monster auf dem Anbaudach und den Regenbogenflaggen hinter der hohen Hecke. Seit einiger Zeit beherrscht – leider – ein Baucontainer den Wildblumengarten. Das ist die Wiese 28, das Grüne Haus anner Ecke, seit 2018 ein Wohnprojekt im Mietshäuser Syndikat [siehe dazu auch weiter unten] und gemeinschaftsliebender Ort im Leineviertel.
Das Haus denen, die drin wohnen
Früher wurden die Zimmer an Studierende vermietet. Doch als 2016 plötzlich Investoren im Vorgarten herumschlichen und sich die Gerüchte erhärteten, dass die damalige Eigentümerin das Haus verkaufen möchte, reifte bei einigen der Bewohner*innen eine Idee heran: Warum kaufen wir es nicht selbst und wohnen gemeinschaftlich? Die Eigentümerin war dem gegenüber glücklicherweise offen, und so gründete sich ein Hausprojekt, das bald darauf ins Mietshäuser Syndikat aufgenommen wurde. Beim Mietshäuser Syndikat handelt es sich um einen deutschlandweiten Zusammenschluss alternativer Wohnprojekte, die dem Immobilienmarkt dauerhaft entzogen sind. Dabei gehört das jeweilige Haus genau den Menschen, die gerade darin wohnen. Das heißt, die Bewohner*innen zahlen Mieten, die allerdings nur dem Abtragen der Kredite für den Kauf der Immobilie und den laufenden Kosten dienen. Der Wohnraum, in dem unsere Betten, Esstische und Musikinstrumente stehen, ist also kein Spekulationsobjekt und generiert für niemand Außenstehenden Profit. Das ist ganz handfester, friedlicher Antikapitalismus – ein Stück Utopie zum Drinherumlaufen.
Im Grünen Haus anner Ecke sind wir zur Zeit elf Menschen zwischen Anfang 20 und Mitte 40, die gemeinsam wohnen, diskutieren, kochen, einander trösten, putzen und Schritt für Schritt das alte Fachwerkhaus renovieren. Wenn alles fertig ist, soll hier Platz für bis zu 15 Menschen sein.
Utopie ist Handarbeit
Fassade, Dach, Erd- und Dachgeschoss sind schon fertig und modernisiert, und peu à peu gestalten wir aktuell den ersten Stock neu – der Container im Garten ist Zeuge. Das Allermeiste machen wir selbst, und nein, die meisten von uns hatten vorher keine Ahnung von Bauplanung, Lehmbau und Elektrik oder überhaupt davon, was es bedeutet, ein eigenwilliges altes Fachwerkgebäude zu sanieren und umzubauen. „Das Haus ist sehr schief und dadurch kommt es immer wieder zu lustigen Situationen. Man fühlt sich wie auf einem schwankenden Schiff oder etwas angeduselt“, sagt Kaja, die seit zwei Jahren hier wohnt. „Eigentlich war es gut, dass wir vorher nicht wussten, was da alles auf uns zukommt“, berichtet Daniel, der von Anfang an dabei war, „sonst hätten wir vielleicht doch noch kalte Füße gekriegt. So haben wir, notgedrungen, aber auch mit Begeisterung, viel gelernt und können jetzt stolz sein, dass wir das Haus größtenteils in Eigenleistung renovieren.“
Hurra, ein Plenum!
Neben der Beantwortung von Baufragen und der Erledigung aller Aufgaben, die in der Selbstverwaltung anfallen, gehört zu den Lernprozessen vor allem auch die Fähigkeit dazu, wichtige Entscheidungen über Mieten, Umbau und Gestaltung kollektiv treffen zu können, aber auch Übung in konsensbasierter Konfliktlösung und Organisation des sozialen Zusammenlebens. Denn wer als Gruppe die Dinge gleichberechtigt planen und umsetzen will, muss lernen, wie Gruppenprozesse und Konfliktlösungen funktionieren. Das ist oft anstrengend und unspektakulär: So bedeutet Revolution mitunter eben einfach, einander zuzuhören oder gemeinschaftlich den Keller aufzuräumen. Und genau das ist eine weitere Besonderheit an unserem Projekt, finde ich, Melanie, seit zwei Jahren mit von der Partie: Da wohnt ein kleiner Haufen Erwachsener, viele davon weit jenseits des typischen Göttinger Studi-WG-Alters, ganz freiwillig zusammen und managed dieses Zusammenleben im Konsens und mit Rücksicht aufeinander. Die WG, die gesellschaftlich lange als günstige Zwischenlösung für junge Leute in der Ausbildungsphase betrachtet wurde, ist längst in allen Altersgruppen verbreitet. Denn viele Menschen möchten lieber gemeinschaftlich als alleine wohnen, sich Aufgaben und Ressourcen teilen, während sie sich gegenseitig umeinander kümmern – selbst wenn das heißt, immer mal wieder diskutieren zu müssen, wer denn jetzt für die Spülmaschine verantwortlich war. Nebenbei ist es ökologisch viel nachhaltiger, eine Waschmaschine oder andere Geräte gemeinsam zu nutzen und die Wohnfläche pro Person zu reduzieren. In diesem Sinne basteln wir langsam und im Kleinen am schönen Leben.
PS: Das Grüne Haus kann man übrigens auch durch Spenden oder mit einem Direktkredit unterstützen, um uns dabei zu unterstützen, dass wir beim Abbezahlen des Kaufpreises noch unabhängiger von der Bank sind. Mehr Infos: wiese28.de
Das Mietshäuser Syndikat
Das Mietshäuser Syndikat ist ein deutschlandweiter Zusammenschluss von mittlerweile etwa 200 selbstverwalteten Wohnprojekten, die sich jeweils im Besitz der Bewohnerschaft befinden. Das Grüne Haus im Leineviertel ist eines von zwei Göttinger Projekten. Beim anderen handelt es sich um das OM10 in der Oberen Masch-Str. 10. Dazu gehören Häuser mit abgeschlossenen Wohnungen ebenso wie Groß-WGs. Manche Projekte betreiben neben dem Zusammenwohnen auch gemeinsam einen Veranstaltungs- oder Begegnungsort, wie z.B. die Rigaer78 in Berlin oder das Stadtteilleben in Hannover. Die Bewohnenden sind Menschen in allen Lebensaltern und den verschiedensten Lebenssituationen.
Rechtlich geht das so
Es gibt einen Hausverein, in dem alle Bewohner*innen Mitglied sind. Außerdem gibt es eine GmbH, der das Haus gehört – oder der es eines Tages gehören wird, wenn die Kreditschulden abbezahlt sind. Diese GmbH hat zwei Gesellschafter: Den Hausverein und das Mietshäuser Syndikat, wobei der Eigentumstitel bei der GmbH liegt. Das Syndikat als Dachorganisation hat in erster Linie eine Wächterfunktion, denn um das Haus irgendwann auf den normalen Immobilienmarkt zurückverkaufen zu können, müssten sowohl das Syndikat als auch der Hausverein zustimmen. So wird garantiert, dass das Ziel der Syndikatsstruktur und ihrer Mitglieder erreicht wird: Der Wohnraum wird dem profitorientierten Immobilienmarkt dauerhaft entzogen und so bleiben die Mieten beständig bezahlbar. Dies sorgt gleichzeitig dafür, dass die Menschen, die in einem Haus wohnen, auch selbst entscheiden können, wie dieses gestaltet wird – von der Wahl der Energieträger über die Hausordnung bis zur Einbindung in ihr Quartier.
Finanzielle Fragen
Die allermeisten Gruppen müssen sich Geld leihen, um das Haus zu kaufen und etwaige Sanierungenmaßnahmen zu finanzieren. Im Syndikat geschieht dies nur teilweise über Bankkredite. Ein großer Teil stammt aus Direktkrediten von Menschen, die ein solches Projekt unterstützen möchten. So wird das finanzielle Risiko verkleinert und auf viele Schultern verteilt. Hierbei, wie auch zu Fragen der Gruppenfindung und was sonst noch unter den Nägeln brennt, beraten Mitglieder des Syndikats meistens ehrenamtlich. Für die Bewohner*innen heißt das, sie zahlen ganz klassisch monatlich eine Miete an ihre Haus-GmbH, über deren Schalten und Walten sie aber selbst bestimmen. Zum Einzug müssen sie keine finanzielle Einlage leisten, wie es bei anderen Formen des Gemeinschaftseigentums notwendig ist, sodass das finanzielle Risiko nicht Einzelne trifft. Letztlich legt die Gruppe im Rahmen der Notwendigkeiten selbst fest, wie hoch die Mieten sind. Dabei lässt sich die Last auch flexibel und nach den jeweiligen Möglichkeiten der Bewohner*innen verteilen. Manche Projekte leisten sich darüber hinaus Gäste- oder Solizimmer.
Schöner Wohnen
Nicht zuletzt bedeutet ein überregionaler Verbund auch immer fruchtbare Vernetzung und Austausch zwischen den verschiedenen Wohn-Projekten. So können sich nicht nur die Mitgliedsprojekte finanziell aushelfen, wo es nötig sein sollte, sondern sie beraten sich auch gegenseitig in puncto Gruppendynamik und Konfliktlösung. Außerdem ist es schön zu wissen, dass an vielen anderen Orten andere Menschen ähnliche Herausforderungen und Erfolge erleben und am guten Leben für alle basteln.
Mehr Infos: syndikat.org
PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 34. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins.
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