SEX. MACHT. SPASS. UND PROBLEME.

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Warum fällt es uns leichter, über Krankheiten zu reden als über Sex? Haben wir die Fesseln der Unterdrückung und Verklemmtheit längst gesprengt oder nur gelernt, in ihnen shoppen zu gehen? Mit UNTENRUM FREI hat Margarete Stokowski ein persönliches, provozierendes und kämpferisches Buch über die Mechanismen sexueller Unterdrückung geschrieben. 

[Text: Amina Yousaf | Foto: Rowohlt]

In ihrer Spiegel-Online-Kolumne findet Margarete Stokowski Woche für Woche die richtigen Worte – und die sind häufig rabiat und direkt. Ebenso ist der Ton in ihrem Erstlingswerk „Untenrum frei“, mit dem es der 1986 in Polen geborenen und in Berlin aufgewachsenen Autorin gelungen ist, alle wichtigen Gedanken zu diesem „ominösen“ Feminismus, dem Bild von Sex und Gender in unserer Gesellschaft und ihren persönlichen Erfahrungen zusammenzutragen. Wieso Mädchen nicht über ihr „untenrum“ sprechen wollen, und warum sie um jeden Preis schön, aber lieber nicht zu klug sein wollen, will Margarete Stokowski wissen. Warum bekommen sie vieles viel weniger selbstverständlich als ihre Brüder, und wieso bringt man ihnen von Kindesbeinen an bei, zurückzustecken, zu schweigen, schön brav zu sein und sich anzupassen? Auf ihrer Suche nach Antworten kommt Stokowski zu folgender zentralen These: „Wir können „untenrum“ nicht frei sein, wenn wir obenrum nicht frei sind.“ Und dabei geht es nicht nur um die „kleinen, schmutzigen Dinge“, über die wir nicht sprechen, sondern auch um die großen Machtfragen – über die wir auch nicht sprechen –, und es geht darum, wie Untenrum und Obenrum zusammenhängen. Auf nur 256 Seiten ordnet Stokowski Erlebtes und Gelesenes von Simone de Beauvoir über Laurie Penny bis Carolin Emcke, mal schreibt sie essayistisch, mal im Reportagenstil, mal soziologisch, mal in überspitzten, mal in amüsanten, gedankenvollen, kämpferischen oder skeptischen Tönen, aber immer in hohem Tempo und mit vielen gelungenen Pointen. 

Shoppen gehen mit dem Patriarchat 

Stokowski summiert: „Wir haben die Fesseln des Patriarchats nicht gesprengt, sondern sind mit ihnen shoppen gegangen." – Kapitalismus ist nach Stokowski schuld an der andauernden Ungleichheit der Geschlechter. Abbildungen von nackten Frauen sind heute überall zu finden und werden unverzüglich mit Sex verbunden, haben aber meistens gar nichts mit Sex zu tun, sondern eher mit dem Verkauf von Autos oder Strumpfhosen. „Die Autovermietung, die zu Werbezwecken einen jungen Mann lasziv an einer Kühlerhaube knabbern lässt, muss erst noch gegründet werden“, führt Stokowski als Beispiel für die Manifestierung der Ungleichheit an. Denn aus ominösen Gründen sind sich die meisten von uns einig, dass ein junger Mann dabei absolut lächerlich wirken würde. Aber Frauen werden genau so inszeniert. Ihr nackter Körper kommt heutzutage zur Bewerbung von allem Möglichen und Unmöglichen zum Einsatz. Frei nach dem Motto „Sex Sells“. Dass dabei in der Regel der nackte Frauenkörper mit Sex gleichgesetzt wird, ist genauso absurd wie das Bild des jungen Mannes der am Auto knabbert. Margarete Stokowski zeigt die Absurditäten einer Gesellschaft auf, die sich für „sexuell befreit“ hält, aber deren Individuen nicht weniger verunsichert, peinlich berührt und bedrängt sind wie andere Generationen vor ihr. Sie skizziert eine Gesellschaft, in der Frauen noch immer erklärt wird, wie Männer (und nicht wie Frauen) den bestmöglichen Sex haben. „Aus Zeitschriften wie Cosmopolitan und Joy lernen wir Hunderte Arten, demütig an einem Schwanz zu lutschen und ebenso viele Arten, den eigenen Körper so hinzubekommen, dass wir möglichst häufig die Gelegenheit dazu kriegen.“ Das Ganze wird uns dann noch als „sexuelle Freiheit“ verkauft. Aber wo bleibt eigentlich unser Spaß dabei? Fakt ist, dass auch heute noch nur die wenigsten Männer wissen, dass die meisten Frauen nur selten allein durch Penetration einen Orgasmus erleben werden. 

Erwachsenwerden

Die Autorin beschreibt mittels ihrer eigenen Biographie ihren Weg zum Feminismus. Mit vier Jahren stürzt Stokowski vom Fahrrad und verletzt sich „untenrum“. Aber ihr fehlen die Worte, die dieses „untenrum“ beschreiben, also schweigt sie. Mit sechzehn wird sie vom Leiter ihrer Schach-AG vergewaltigt und sie schweigt wieder. Denn sie selbst stuft damals das Geschehen nicht als Vergewaltigung ein, vielmehr hat sie diffuse Schuld- und Schamgefühle. Um ein Gefühl von Kontrolle zurückzuerlangen, hungert sie und fängt an sich zu ritzen. Der eigentlich selbstbewussten Jugendlichen fehlen die Worte für sexuelle Gewalt gleichermaßen wie ihr als kleines Mädchen die Worte für ihre Vagina gefehlt haben. Hier wird klar: Dieses Buch ist keine Feel-good-Lektüre. Die Erlebnisse, die Stokowski erfahren hat, sind nicht immer einfach zu verdauen. Immer wenn sie ein Schlaglicht aus ihrem Leben in das Buch mit aufnimmt, setzt sie ihre Erfahrung in einen größeren Zusammenhang. Sie macht Diskurse auf und ordnet ein. Stokowski hat sich nicht nur mit den Theoretiker*innen auseinandergesetzt, sondern auch die Auswirkungen und Implikationen für ihr Leben abgeleitet. In einer sehr zugänglichen Art und Weise macht sie auf die kleinen und großen Ungerechtigkeiten in unserem Alltag aufmerksam und hilft so, Zusammenhänge zu erkennen, die wir vorher gar nicht gesehen haben. Mit jeder Seite, mit jedem Kapitel gewinnt man als Leser*in neue Erkenntnisse und ist überrascht, welche Dinge miteinander im Zusammenhang stehen. 

Wissen wäre Macht – also lest das Buch. 

Das Buch liest sich schnell weg, bleibt hängen, macht Mut und Wut und ist dabei permanent unterhaltsam und wirklich toll geschrieben. Es ermuntert uns alle, sich mit den Dingen nicht einfach bloß abzufinden, sondern sie zu hinterfragen, nicht einfach zu schweigen, weil man etwas schon immer so gemacht hat oder weil man zufällig eine Frau oder ein Mann ist. „Untenrum frei" ist ein Buch darüber, warum das Leben kein Pappenstiel ist, und warum genau das gut so ist. 

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