Wie wohnen?_Teil 2

#Wohnen #Lokales #LebenLernen

Die Frage, wie wir wohnen möchten, wird neu gedacht. Immer mehr Menschen suchen nach Wegen, gemeinschaftlich und generationsübergreifend zusammenzuleben – unabhängig von Verwandtschaft und in jedem Lebensalter. Denn diese Wohn­formen bieten nicht nur eine Entlastung bei steigenden Mietkosten, sondern beugen auch Einsamkeit vor, fördern die gegenseitige Unterstützung im Alltag und schonen die Umwelt. In Göttingen unterstützt die Wohnraumagentur der Stadtverwaltung solche Pro­jekte – ein deutschlandweit einzigartiges Beratungsangebot, das die sozialen Aspekte des Zusammenlebens mit ökologischen Überlegungen verknüpft und fördert.

[Text: Melanie Krause | Illustration: Fräulein Freud]

Fallen wir doch gleich mal mit der Tür ins Haus und benennen die zentralen Herausforderungen: Der Wohnraum in Göttingen ist knapp, und die Mieten sind hoch. Um dieses Problem anzugehen, hat die Stadt im Jahr 2018 das Handlungskonzept für bezahlbares Wohnen ins Leben gerufen, mit dem ehrgeizigen Ziel, bis 2030 rund 5.000 neue Wohneinheiten zu schaffen. Zusätzlich gilt es, der Klimakrise zu begegnen. Hierzu hat Göttingens Verwaltung den Klimaplan 2030 auf den Weg gebracht, der unter anderem energetische Sanierungen und flächensparendes Wohnen fördert. Ein weiteres zentrales Thema ist die demographische Entwicklung: Der Anteil älterer Menschen steigt, und die Bedingungen im Wohnbereich müssen sich dieser Entwicklung anpassen. Dabei setzt die Stadt auf mehr Inklusion, stärkere Nachbarschaften und die Förderung von Barrierefreiheit in Wohngebäuden.

Durch eine glückliche Fügung – politische Initiativen aus der Ratspolitik, innovative Ideen und Fördermittel des Bundes  – konnte im Jahr 2020 die Wohnraumagentur der Stadt gegründet werden. Sie vereint Expertisen aus den Bereichen Bau, Umwelt und Soziales und vernetzt so zentrale Themen der Wohnungsplanung.

Die Grundpfeiler der Wohnraumagentur

Die Wohnraumagentur bietet Unterstützung auf zwei Ebenen: Auf individueller Ebene berät sie Gemeinschaften, die Wohnprojekte realisieren möchten, und Einzelpersonen, die beispielsweise ihr zu großes Einfamilienhaus in kleinere Wohneinheiten umgestalten möchten. Auf administrativer Ebene arbeitet sie daran, strukturelle Hürden abzubauen, die solche Projekte erschweren. Zudem setzt sich die Agentur für die Durchsetzung des Verbots der Zweckentfremdung von Wohnraum ein und engagiert sich gegen dauerhaften Leerstand.

Das Locked-In-Syndrom

Eine Erhebung aus dem Jahr 2022 ergab, dass es im Stadtgebiet Göttingen rund 19.000 Wohngebäude gibt, von denen etwa 12.500 Ein- und Zweifamilien- sowie Reihenhäuser sind. Lisa Kietzke, die in der Wohnraumagentur für Wohninitiativen und Baugebiete zuständig ist, erläutert: „Es herrscht nicht unbedingt Wohnraummangel, sondern eine ungleiche und nicht bedarfsgerechte Verteilung der Flächen.“

Über die Hälfte aller Göttinger Wohnungen [ca. 60 Prozent] haben vier oder mehr Zimmer. Also eigentlich genug, um Familien mit Wohnraum zu versorgen. Gleichzeitig lebt aber der Großteil der Göttinger*innen allein oder zu zweit [87 Prozent der Haushalte]. Dies ist in etwa der Hälfte aller Ein- und Zweifamilienhäuser der Fall. Da wenig kleine und bezahlbare Wohnungen vorhanden sind, findet kaum Wohnraumwechsel statt. Lisa Kietzke beschreibt dieses Ungleichgewicht als Locked-In-Syndrom: Familien und größere Wohngemeinschaften finden kaum passende, große Wohnungen, während Menschen in Einfamilienhäusern nach der Familienphase oft keinen kleineren, bezahlbaren Wohnraum finden – selbst wenn sie ihn suchen. Dadurch gibt es kaum Bewegung auf dem Wohnungsmarkt, und viele Menschen bleiben in zu großen oder zu kleinen Wohnungen, die nicht zu ihren aktuellen Bedürfnissen passen.

Die drei Säulen des Wohnungsbaus

Der Wohnungsbau in Deutschland stützt sich auf drei Säulen: die Privatwirtschaft, die auf Gewinn ausgerichtet ist, den Staat, der soziale Versorgung sicherstellt, und zivilgesellschaftliche Akteur*innen, die auch gemeinwohlorientiert sind. Vor allem Letztere möchte die Wohnraumagentur in Göttingen stärken. Denn Wohnraum muss nicht allein von Investor*innen geschaffen werden, erklärt Lisa Kietzke. Wenn die Bewohner*innen eines Viertels direkt in die Planung und Gestaltung einbezogen werden, entstehen oft andere, gemeinschaftsfördernde Gebäude, als wenn diese ausschließlich von großen Bauunternehmen entworfen werden. So kann etwa eine Siedlung um einen zentralen Gemeinschaftsplatz entstehen, wodurch die Architektur die nachbarschaftliche Verbundenheit schon von Anfang an fördert. Gerade gemeinschaftliche Wohnprojekte gelten als „Triebkraft der sozialen Stadtentwicklung“. Deshalb reserviert die Stadt Göttingen bei der Vergabe von Bauflächen mittlerweile gezielt Grundstücke für Wohninitiativen.

Zusammen weniger allein sein

In vielen Städten Deutschlands gibt es inzwischen Stellen zur Förderung gemeinschaftlichen Wohnens. Doch die enge Verknüpfung sozialer und ökologischer Anliegen, wie sie die Göttinger Wohnraumagentur verfolgt, ist bisher einzigartig.  Denn Göttingen zeichnet sich ohnehin schon durch eine Vielzahl selbstverwalteter Hausprojekte und generationenübergreifender Wohngemeinschaften aus. Viele WGs verstehen gemeinschaftliches Wohnen hier nicht als Übergangslösung, sondern als dauerhaften Lebensentwurf. Ursprünglich stammen viele dieser Projekte aus der studentischen Subkultur, aber das Konzept des Zusammenwohnens gewinnt über die studentische Szene hinaus immer mehr an Bedeutung. Auch ältere Menschen erkennen zunehmend, dass sie nicht allein oder zu zweit in einem großen Haus mit steilen Treppen leben möchten, das zwar für eine Familie mit Kindern ideal war, jetzt jedoch zu groß und schwer zu pflegen ist.

Gemeinsam wohnend die Welt retten

Gemeinsam zu wohnen bedeutet auch, Dinge zu teilen: Kühlschrank, Waschmaschine, und ja, selbst den Staubsauger. So sinkt der Platzbedarf pro Person – und damit auch der Ressourcenverbrauch. Wird bei der Umgestaltung eines Einfamilienhauses zu einem Mehrfamilien- oder Gemeinschaftshaus zusätzlich eine energetische Sanierung vorgenommen, lassen sich die Emissionen pro Person sogar um bis zu 90 Prozent senken. Darüber hinaus senken sich auch die Lebenshaltungskosten, weil Anschaffungen und laufende Ausgaben geteilt werden. Das schafft Raum für mehr Lebensqualität – selbst bei vergleichbaren Mietkosten.

Die Bandbreite des gemeinschaftlichen Wohnens ist groß. Neben klassischen WGs bieten neue Formen des Zusammenlebens wie das Clusterwohnen Flexibilität: Hier teilen sich kleinere Wohneinheiten, die z.B. aus einem Schlafzimmer und eigenem Bad bestehen, eine gemeinsame Küche und Gemeinschaftsräume. Pflegewohngemeinschaften und Mehrgenerationenwohnen werden ebenfalls zunehmend beliebter. Auch Coworking-Räume, Gästezimmer oder große Gemeinschaftssäle lassen sich bequem mit anderen teilen, was Platz spart und den Ressourcenverbrauch weiter reduziert. Gemeinschaftliches Wohnen senkt also nicht nur Emissionen und Kosten, sondern auch den allgemeinen alltäglichen Aufwand – weniger Fläche bedeutet weniger zu putzen und zu pflegen. Wer genau überlegt, was er oder sie wirklich braucht, mit wem man gern enger zusammenleben möchte und worauf man gut verzichten kann, entdeckt viele spannende Möglichkeiten. Auf www.goe.de/wra können sich Interessierte über aktuelle Veranstaltungen und Beratungsangebote der Wohnraumagentur informieren. Darüber hinaus befindet sich in der Göttinger Stadtbibliothek ein eigens für dieses Thema eingerichtetes Regal mit Büchern über neue und gemeinschaftliche Wohnformen und flächensparendes Wohnen. 

Nun bleibt zu hoffen, dass die Wohnraumagentur nicht dem aktuellen Sparzwang der Stadtverwaltung zum Opfer fällt.

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 35. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins.

 

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