Generation Depression

#Seelenleben #Interview #Studieren #LebenLernen #Depression

Freiheit, Party, Grenzen überschreiten, die Welt bereisen, studieren, sich selbst verlieren und finden, weiterentwickeln und erwachsen werden. Seine Jugend nicht verschwenden, sondern die eigene Zukunft optimieren. Verantwortung tragen, Entscheidungen treffen, Karriere machen, Familie gründen, funktionieren müssen. Aber was ist, wenn einem das alles zu viel wird?

[Text : Lena von Felde | Illustrationen: Sebastian Becker]

 

Für die Generation Depression ist die Welt schwarz-grau, weil die Zukunft nicht nach Abenteuer, sondern nach Angst riecht. Weil man sich davor fürchtet, seine Freiheit zu genießen, während sich die Grenzen ständig zu verschieben scheinen. Weil man nicht weiß, wie man mit dieser ganzen Freiheit umgehen soll. Weil da niemand ist, der einem sagt, was geht und was nicht, was man machen und was man lieber lassen sollte. Weil das Studium einen psychisch überfordert, die Erwartungen zu hoch sind und man denkt, dass man sie nie erfüllen kann. Weil einem die Arbeit über den Kopf wächst. Weil man endlich unabhängig und erwachsen sein soll, aber sich viel zu klein und verletzlich dafür fühlt.  

Was geht?

„Was soll ich überhaupt mit mir und meiner Zukunft anfangen?" Eine Frage, die sich ziemlich viele Menschen immer wieder stellen. Eine Frage, auf die einige eine Antwort finden und dieser Vision folgen. Doch was ist, wenn Du keine Antwort kennst? Wenn Du Dich verloren fühlst? Wenn Du glaubst, nichts auf die Reihe zu kriegen und vernünftig zu Ende zu bringen? Dann gehörst vielleicht auch Du zur Generation Depression. Als junger Mensch ist die Gefahr besonders groß. Einer Studie des Robert Koch Instituts zufolge sind Depressionen in Deutschland in keiner Altersgruppe so weit verbreitet wie unter den 18- bis 29-Jährigen, und nicht einmal die Hälfte von ihnen wird behandelt.

Schwere Steine

Depression - eine Krankheit, die einen immer wieder quält und schwere Steine in den Weg legt, von denen man aufgehalten wird, die einen hindern, Risiken einzugehen und Zukunftspläne zu schmieden. Eine Krankheit, die einen schwarz-grauen Schleier über Dein Leben legt, über den Du ständig stolperst und deshalb auf der Stelle trittst. Irgendwie scheint es bei allen anderen besser zu funktionieren – sie studieren, reisen, haben Spaß und genießen ihr Leben, sind erfolgreich. Doch bei Dir läuft es nicht, und während Du mit Deinem schwarz-grauen Schleier durch die Gegend schleichst, fällst Du auch noch unangenehm auf:

„Du verreist gar nicht? Willst Du denn gar nichts von der Welt sehen?“

„Was machst Du nach Deinem Studium? Weißt Du nicht?!?“

„Du studierst gar nicht?!?“

„Wie kann man Festivals nicht mögen?“

„Warum warst Du nicht auf der Party des Jahrhunderts?“

„Wie kann man lieber alleine sein, anstatt gemeinsam was zu unternehmen?“

Wenn man derartige Fragen falsch beantwortet, ergibt das eine ziemlich suboptimale Performance. Das kommt überhaupt nicht gut an. Traurigkeit ist nur dann cool und akzeptabel, wenn sie zum Outfit passt und verschwindet, sobald Aufmerksamkeit da ist. Wenn Du aber eine Depression hast, dann ist Deine Traurigkeit kein Accessoire, das Du trägst, wann es Dir passt. Vielmehr bist Du das Accessoire Deiner Depression und sie nimmt sich Dich, wann immer sie will. 

Untergehen

Dem gesellschaftlichen Druck nicht standhalten zu können und das spürbar von seinen Mitmenschen vermittelt zu bekommen, tut weh und schließt einen aus. Und das alles nur, weil man Depressionen hat, für die man nichts kann. Psychisch krank zu sein, bedeutet in unserer Gesellschaft, dass man nicht zu 100% leistungsfähig ist, und das wird gar nicht gerne gesehen. Heutzutage musst Du produktiv und erfolgreich sein. Du brauchst große Ziele, denn an Dich werden noch größere Erwartungen gestellt. Schließlich musst Du Dich irgendwie behaupten und Schwäche hilft Dir dabei nicht weiter. Schwäche darf nicht sein. Obwohl wir alle Schwächen haben. Doch nur wenige Menschen geben sie preis. Die meisten sind zu gut darin, sie zu verstecken. Aber Dein grauer Schleier verrät Dich. Denn Du bist Teil der Generation Depression. 

 

Depri dank Uni?

Weil das Thema Depressionen vermehrt auch Studierende betrifft, haben wir mit der Leiterin der Psychosozialen Beratungsstelle [PSB] des Göttinger Studentenwerks, Annet Göhmann-Ebel, gesprochen und sie gefragt, warum die Universität eine depressive Wirkung ausüben könnte.

[Interview: Lena von Felde]

Hallo Frau Göhmann-Ebel, wieviele Studierende nehmen die Hilfe der PSB in Anspruch, und haben Sie in den letzten Jahren eine Zunahme zu vermerken?

Im Jahr 2017 suchten 1.100 Studierende die PSB auf. Das war eine Steigerung von 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Insgesamt leistete die PSB im vergangenen Jahr 3527 Beratungskontakte und 578 Ratsuchende nahmen die offenen Sprechstunden wahr. Allgemein ist eine Zunahme der Zahlen aber sehr schwierig zu eruieren, da sich die Anzahl der Mitarbeiter*innen in der PSB im Laufe der Jahre erhöht hat und somit mehr Ratsuchende aufgenommen werden konnten als in früheren Jahren. Dennoch ist es leider so, dass wir unseren eigenen Ansprüchen nach nachhaltiger Betreuung und Beratung nur schwer gerecht werden können, da die Nachfrage nach Beratungsgesprächen hoch ist. Zurzeit verzeichnen wir eine Warteliste von 35 Ratsuchenden und die Wartezeit auf ein Gespräch kann bis zu sechs Wochen betragen. Möglicherweise ist die Akzeptanz, psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen, größer geworden, da die Stigmatisierung ein wenig nachgelassen hat, oder der Bedarf ist tatsächlich gestiegen.

Mit welchen Problemen kommen die Studierende zu Ihnen?

Laut unserer Statistik stehen in der Selbstwahrnehmung der Studierenden Selbstwertprobleme an erster Stelle, Ängste an zweiter, Depressionen an dritter und Stressproblematiken an vierter Stelle. Das Selbstwertgefühl wird im Studium am meisten getriggert: Man muss sich ständig präsentieren und wird beurteilt. So steht die Persönlichkeit und Leistungsfähigkeit von Studierenden in ihrer Selbstwahrnehmung  permanent im Fokus, was für viele eine schwierige Herausforderung ist. 

Was raten Sie jungen Menschen, die sich vermehrt durch ihr Studium schlechter fühlen und zu große Scham empfinden, um sich ihren Problemen zu stellen?

Häufig haben Studierende mit psychischen Problemen die Tendenz, sich aus dem sozialen Leben zurückzuziehen und abzukapseln. Doch das ist der Weg in die falsche Richtung. Es ist wichtig, sozial vernetzt zu bleiben, um nicht zu vereinsamen, sich sportlich zu betätigen und sich auch außerhalb des Studiums zu engagieren. Viele Studierende haben Angst, Zeit in Aktivitäten wie Hobbies  zu investieren, da sie glauben, diese Zeit fehle ihnen für die Studienarbeit. Aber kreative Tätigkeiten, die Spaß bereiten, helfen beim Erlernen sozialer Kompetenzen und machen selbstsicher. Darüber hinaus sollte auf jeden Fall professionelle Unterstützung gesucht werden, wenn eigene Grenzen der Bewältigung gespürt werden.

Wie helfen Sie den Studierenden?

Wir bieten Einzelgespräche, Paargespräche und Gruppenberatungen an. Letztere werden zum Beispiel von WGs in Anspruch genommen, wo es häufig auch zu Alltagsschwierigkeiten und Problemen im sozialen Umgang kommen kann. Wir bieten jedes Semester ein Kursprogramm an, unter anderem zu Themen wie Studienorganisation, Entspannungstechniken, Hilfe zur Stressregulation und andere psychoedukative Maßnahmen. Diese Kurse sind auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Studierenden abgestimmt. So gibt es Angebote für Studienanfänger*innen, Studienabschlusscoaching, Doktorantencoaching und neuerdings auch ein englischsprachiges Angebot für internationale Masterstudierende und Doktorant*innen. Zudem bieten wir das Projekt HOPES [Hilfe und Orientierung für psychisch erkrankte Studierende] an, um Studierende, die beispielsweise einen stationären Krankenhausaufenthalt hinter sich haben, dabei zu unterstützen, sich ins Studium zu reintegrieren. Unsere Angebote sind alle kostenfrei und auf Wunsch kann man auch anonym daran teilnehmen. Die Kurse sind leider schnell ausgebucht, da eine sehr große Nachfrage besteht und die Teilnehmerzahl begrenzt ist. Es empfiehlt sich, für das Wintersemester ab Mitte September auf unsere Homepage zu schauen und sich gegebenenfalls mit dem Online-Formular anzumelden.

Kommen die Ratsuchenden querbeet aus allen Fachbereichen oder gibt es bestimmte Studiengänge, die den Studierenden besonders zu schaffen machen?

Das ist schwierig zu beantworten. In Anbetracht der Tatsache, dass die Philosophische Fakultät eine der größten an der Uni Göttingen ist, kommen natürlich viele Studierende aus diesem Bereich, was aber nicht bedeutet, dass diese Fakultät die meisten Klienten produziert. Auch aus den sehr lernintensiven Studiengängen, wie Medizin, Biologie oder Jura, suchen viele Studierende vor wichtigen Prüfungen Rat in der PSB. Manchmal kommen aus bestimmten Fachbereichen vermehrt Studierende mit ähnlichen Problemen zu uns, was darauf hindeuten kann, dass die Prüfungsbedingungen in einigen Studiengängen für manche  Studierende schwierig zu bewältigen sind. 

Inwiefern hat sich Ihrer Ansicht nach der Bologna-Prozess, also die Umstellung auf die Bachelor-/Masterstudiengänge, auf die psychische Verfassung der Studierenden ausgewirkt? 

Der Bologna-Prozess ist schon fast Geschichte. Sicher hat er Vor- und Nachteile mit sich gebracht: Studierende, die viel Struktur und klare Vorgaben brauchen, kommen in Bachelor- und Masterstudiengängen gut zurecht. Andere, die Freiräume lieben, können mit engen Strukturen ein Problem haben und wären in einem früheren Magister- oder Diplomstudiengang besser aufgehoben gewesen. Generell bin ich der Ansicht, dass die Prüfungsanforderungen häufig unangemessen umfangreich ausfallen: Sieben Klausuren in einem Semester sind kaum zu schaffen und führen nicht unbedingt zu einem großen Lernerfolg, da die Themen meistens nur oberflächlich behandelt werden und Klausuren häufig aus Multiple-Choice-Aufgaben bestehen. Der eigentliche Inhalt des Studiums und nachhaltiges Lernen gehen dabei verloren. Wir nennen das Bulimielernen: Bis zur Klausur wird so viel Stoff, wie nur möglich, auswendig gelernt, der in der Klausur wieder freigesetzt, danach nie wieder verwendet und damit vergessen wird. Und die Jagd nach den Credits im nächste Semester schließt sich nahtlos an. 

Stimmt es, dass immer mehr Studierende zu aufputschenden Drogen greifen, um Ihr Lernpensum zu schaffen oder Hausarbeiten zu schreiben? Wie gehen Sie damit um?

Natürlich bekommen wir auch ab und zu mit, dass Studierende sich im Internet Ritalin oder ähnliches bestellen, da sie glauben, damit ihre Leistungsfähigkeit optimieren zu können. Jedoch ist der Anteil der Studierenden, die das zugeben, verschwindend gering, weshalb wir darüber nicht wirklich eine Aussage treffen können. Nebenbei bemerkt hat eine Studie aus Münster gezeigt, dass Ritalin bei Menschen, die kein ADHS haben, gar keine leistungssteigernde Wirkung zeigt. Was uns als ein viel größeres Problem erscheint, ist der Konsum von Cannabis unter Studierenden. Exzessiver Konsum kann bis zur körperlichen Verwahrlosung und zu irreversiblen Psychosen führen. In diesen tragischen Fällen hilft nur eine ärztliche Behandlung, zum Beispiel in Form einer stationären Aufnahme. 

Sind junge Menschen in ihrer Selbstfindungsphase besonders anfällig für Depressionen?

Junge Erwachsene befinden sich in einer sehr fragilen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Das Alter zwischen 20 und 30 Jahren ist eine hochsensible Entwicklungsphase und dabei stellt im gesamten Lebenskontext das Studium eine besonders große Herausforderung dar. Es besteht ein hoher persönlicher und sozialer Erwartungsdruck sowie hohe Leistungsanforderungen, die sich dauerhaft das gesamte Studium durchziehen:  Creditpoints sammeln, Klausuren und Hausarbeiten schreiben und sich jedes Semester auf's Neue beweisen. Die Studierenden und ihre Umwelt erwarten ein perfektes Funktionieren. Durch diese enorme Anforderung kann Überforderung entstehen und die Anfälligkeit für Selbstwertzweifel und Depressionen größer werden. Darüber hinaus gibt es natürlich auch genetische Ursachen. 

Sind Sie der Meinung, dass in unserer leistungsorientierten Gesellschaft psychisch kranken Menschen genügend Unterstützung geboten wird?

Die Unterstützungsmaßnahmen sind auf jeden Fall verbesserungswürdig, wie beispielsweise bei der Wiedereingliederung von psychisch Kranken nach einem stationären Aufenthalt in die Arbeit oder zurück ins Studium. Oftmals ist die Vermittlung in psychotherapeutische Nachsorgebehandlungen schwierig, obwohl das sehr wichtig wäre. Psychisch kranke Menschen sollten unbedingt mehr unterstützt und gestärkt werden – und dies sollte zur Normalität werden.

Was müsste sich Ihrer Ansicht nach am System der Universität ändern, damit es den Studierenden psychisch besser ginge? 

Ich denke, dass selbstbestimmtes Lernen mehr gefördert werden sollte. Dazu sollten mehr Projektarbeiten sowie Seminare angeboten werden, wo Themen intensiver behandelt werden und die Studierenden komplexe Zusammenhänge besser einordnen können. Nur wenn Studierende davon überzeugt sind, etwas zu lernen, was nachhaltig integriert werden kann, macht das Studieren Sinn. Und nur dann werden sie ihr angehäuftes Wissen auch noch nach den Klausuren im Kopf behalten und reflektieren können. Eine intensivere und kreativere Beschäftigung mit dem Lernstoff führt zu mehr Erfolgen und damit auch zu mehr Zufriedenheit. Vielfältigere Entfaltungsmöglichkeiten beim Auseinandersetzen mit Studieninhalten wären sehr wünschenswert. Diese Problematik ist allerdings sehr komplex und fängt schon damit an, dass oftmals zu wenig Dozent*innen für zu viele Studierende zuständig sind. Es ließen sich mehrere Ansätze finden, darüber nachzudenken, wie sich das Universitätssystem in einem langwierigen Prozess grundlegend verändern könnte. Dies würde sich aber dann höchstwahrscheinlich sehr positiv auf das Lernen und somit auch auf die Psyche der Studierenden auswirken. Mal ganz davon abgesehen, dass Uniabsolvent*innen, die ihr Wissen auch nach ihrem Studienabschluss noch abrufen und anwenden können, ganz sicher später auch glücklicher und erfolgreicher in ihrem späteren Berufsleben sein werden.

Wir bedanken uns für dieses interessante Gespräch.

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 13. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im August 2018.

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