Auf der Suche nach dem Respekt*land
#Macht+Protest #Lokales #Diskriminierung #LebenLernen
Stell Dir mal vor, Du sitzt im Imbiss, mampfst fröhlich Deine Fritten und plötzlich kommt jemand auf Dich zu und sagt zu Dir: „Du bist, so wie Du bist, nicht gut genug für diese Welt.“ Das nennt man Diskriminierung und diese hat viele Dimensionen. Alle sind hässlich. Weil sich hinter ihnen die ätzende Vorstellung verbirgt, dass manche Menschen weniger wert seien als andere.
[Text: Vanessa Pegel & Christian Heise | Illustrationen: Fräulein Freud]
Allem Gendern, aller multikulturellen Vielfalt und aller Inklusionsversuche zum Trotz, bleiben die Verhältnisse hartnäckig hinter ihren guten Vorsätzen zurück. Immer noch verdienen Frauen für die gleiche Arbeit weniger Geld als Männer, schwule Pärchen haben es schwer, Kinder zu adoptieren, Rollstuhlfahrer*innen stoßen sich an Treppenstufen zu öffentlichen Gebäuden und Bewerber*innen, die nicht Müller oder Meier heißen, werden oft gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Diskriminierung [aufgepasst: Definition!], also „die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung, Benachteiligung, Ausgrenzung, Herabwürdigung und/oder Erniedrigung einzelner Personen oder Gruppen aufgrund unveränderlicher Merkmale“ – ist immer noch eine schmerzliche Realität für unzählige Menschen und hinterlässt Narben in den Leben vieler. Sie ist der traurige Refrain einer Welt, die noch nicht gelernt hat, in Harmonie zu leben. Um diesem zerstörerischen Missklang etwas entgegenzusetzen, hat die Antidiskriminierungsstelle der Bundesregierung unter dem Titel Respekt*land ein Förderprogramm flott gemacht und das Modellprojekt Antidiskriminierungsarbeit auf den Weg gebracht. So sind aktuell fünf Projekte in Niedersachsen – gewissermaßen als Probe aufs Exempel – damit beschäftigt, eine Antidiskriminierungsberatung auf- oder auszubauen, an die sich Betroffene wenden können. Und in Göttingen ist eine davon.
Respekt*land Göttingen
„Was wir heute tun, entscheidet darüber, wie die Welt morgen aussieht.“ Dieses Zitat der Autorin Marie von Ebner-Eschenbach hat sich Alice Pfaffenrot nicht nur auf die Fahnen geschrieben, sie ist auch mit Herzblut dabei. Als eine von drei engagierten Mitarbeiterinnen befasst sie sich aktuell damit, die bereits bestehenden regionalen Beratungsangebote und andere engagierte Menschen zusammenzutrommeln, um sich gemeinsam auf den Weg ins Respekt*land zu machen. Ihre Kollegin Heike Sieber spricht stets mit ruhiger Stimme, und lässt keinen Zweifel darüber, was im Kampf gegen Diskriminierung wichtig ist: eine gute Vernetzung sowie ein kontinuierlicher Erfahrungs- und Wissensaustausch untereinander, um daraus ein starkes Team zu backen, das Betroffenen mit Rat und Tat zur Seite steht. In diesem Sinne holten die beiden gemeinsam mit ihrer Kollegin Wendy Ramola bereits viele kluge Menschen, Institutionen und Gruppen ins Boot [siehe unten], in das auch Du steigen kannst, wenn Du Dich für mehr Chancengleichheit und Gerechtigkeit engagieren willst [E-Mail an antidiskriminierungsarbeit@goettingen.de]. Aktuell sind die drei gemeinsam mit dem VNB e.V. und dem Gleichstellungsbüro als Träger des Modell Göttingen vor allem auf der Suche nach einem emphatischen Menschen mit einem sozialwissenschaftlichen Abschluss, der*die sich in der Sache auskennt und als Berater*in in der neuen Antidiskriminierungsstelle fungieren möchte. Wenn nun Dein Herz schneller zu schlagen beginnt, dann sende Deine Bewerbung an bewerbung@vnb.de. Außerdem muss noch ein passender Ort gefunden werden, der selbstredend barrierefrei und idealerweise zentrumsnah gelegen ist. Weiteres Hauptanliegen: Die Göttinger*innen für das Thema zu sensibilisieren, denn oft diskriminieren wir oder werden diskriminiert und merken es gar nicht. Beispiel gefällig? Nun denn, los geht’s.
Heute schon diskriminiert [worden]?
Allem voran: Es ist nicht nur die individuelle Diskriminierung, die Menschen zum Beispiel beim Fritten-Essen erleben. Für Außenstehende oft verborgen, agiert die strukturelle Diskriminierung subtiler. Nicht zwischenmenschliche Affekte oder Vorurteile spielen hier eine Rolle, sondern Teile der öffentlichen Infrastruktur. Das kann zum Beispiel sein, wenn Papa nicht den Papa heiraten soll oder die Treppe zu steil für den besten Rolli ist.
Doch fokussieren wir uns nicht nur auf das Wie der Diskriminierung, sondern auch auf das Warum. Gefällt zum Beispiel jemandem Deine Hautfarbe nicht, liegt die sogenannte Diskriminierung aufgrund ethnischer Herkunft vor. Lässt ein Vermieter Dich nicht in seinem Haus wohnen, nur weil er andere Pornos guckt als Du, dann beruht diese Diskriminierung auf Deiner sexuellen Orientierung und/oder geschlechtlichen Identität. Wenn Dich ein Arbeitergeber nicht einstellen will, weil er Sorge hat, dass Dein Rollstuhl sein Parkett zerkratzt, handelt es sich um Ableismus – ein zugegeben schwieriges Wort, das sich trotzdem zu merken lohnt. Setzt Dein Chef Dir zu, weil Du vor seinen zudringlichen Händen schneller auf dem sprichwörtlich nächsten Baum bist als alle anderen, dann bezeichnen wir dies als den uralten, ekeligen Sexismus. Dass Menschen, die in relativer Armut leben, meistens auch schlechtere Schulabschlüsse haben und nicht ins Theater gehen, nennt man sozioökonmische Diskriminierung, denn: Armut akkumuliert Armut. Last but not least: Wenn der Vater der Autorin dieser Worte sich im Krankenhaus anhören muss, dass sich eine neue Hüfte eigentlich nicht mehr lohnt, weil er statistisch gesehen eh in vier Jahren das Zeitliche segnet, dann sollte sich dieser Arzt nicht nur in Grund und Boden schämen, weil er ein Arschloch ist, sondern auch weil er sich in Sachen Altersdiskriminierung schuldig gemacht hat.
Was ist zu hoffen?
Trotz bester Vorsätze neigen wir oftmals zu der trügerischen Annahme: Diskriminierung findet stets woanders statt, nur nicht bei uns. Wenn beim Lesen dieses Artikels auch nur der geringste Zweifel an dieser scheinbaren Gewissheit entstanden ist, dann war er nicht umsonst. Und wenn Betroffene die zukünftige Antidiskriminierungsstelle bald als sicheren Anlaufhafen nutzen können, dann ist sogar noch viel mehr geschafft. Wir wünschen von Herzen gutes Gelingen!
O-Töne aus dem Antidiskriminierungsnetzwerk
Als Göttingens Gleichstellungsbeauftragte Christine Müller ihr Abi machen wollte, sagte man ihr, sie solle doch lieber nach Hause gehen, um zu heiraten. Kein Wunder also, dass sie unermüdlich gegen Sexismus und geschlechtsbezogene Vorurteile kämpft. Eines ihrer vielen Ziele: die Repräsentanz von Frauen in der Führungsebene der Stadtverwaltung und anderen politischen Entscheidungsgremien zu verbessern. „Aktuell liegt der Frauenanteil im Rat bei 45 Prozent und im Bund bei 35 Prozent, was keineswegs dem Bevölkerungsanteil entspricht“, stellt sie fest.
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Solá Tschaeschel vom Migrationszentrum Göttingen nennt uns weitere Beispiele für strukturelle Diskriminierung: „Wenn ausländische Universitäts- und Berufsabschlüsse nicht anerkannt werden, sodass Studiengänge oder Ausbildungen wiederholt werden müssen. Wenn es Menschen, die sich noch in einem laufenden Asylverfahren befinden, unnötig schwer gemacht wird, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen, oder wenn schlicht und ergreifend viel zu wenig Sprachkurse angeboten werden, was besonders in Zeiten des Fachkräftemangels und des zunehmenden Rassismus einfach nicht nachvollziehbar ist.“
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Linus Müthing: „Man wird häufiger nicht als Mensch gesehen, sondern auf sein Hilfsmittel reduziert – zum Beispiel wenn Kunden mich nicht beim Namen nennen, sondern nur sagen 'der Mann im Rollstuhl'.“
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Sarah Kleine von der AWO Göttingen – Northeim: „Auch hier in Deutschland leben viele Menschen in relativer Armut, sind alleinerziehend, bekommen wenig Rente, arbeiten für den Mindestlohn und haben dazu eventuell noch Schulden“, sagt sie. „Eine der mächtigsten Einschränkung und damit diskriminierend in diesem Bereich ist ein negativer Schufa-Score, den sogar der EuGH im Dezember 2023 als rechtswidrig einstufte. Denn damit bekommen Menschen, wenn überhaupt, nur mit großem Glück einen Mietvertrag, und keine Wohnung zu haben, ist nicht bloß diskriminierend, es gefährdet die Existenz.“
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Moriz Jordan vom Queeren Zentrum Göttingen: „Leider nimmt die Häufigkeit von Diskriminierung aufgrund von Geschlechtszugehörigkeit und sexueller Orientierung in unserem stetig weiter nach rechts driftenden gesellschaftlichen Klima deutlich zu – nicht zuletzt, weil sie u.a. von konservativen und faschistischen Parteien geschürt wird. Gerade für Betroffene, die oft nicht wissen, dass das, was sie erleben, Diskriminierung ist, kann es einen echten Unterschied machen, dies benennen und sich gezielt Rat holen zu können.“
PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 33. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins.
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