Göttingen calling
#VerwegeneUnternehmer*innen #Lokales #Drogen #Musik #Kultur #Arbeit+Leben #Techno
Manche Lebensläufe sind wie aus dem Ei gepellt, andere so kantig, dass man sich daran stoßen könnte. Letztere finden wir spannender. Deshalb portraitieren wir in unserer Serie VERWEGENE UNTERNEHMER Firmengründer, bei denen nicht immer alles rund lief und doch zum Erfolg führte. Unser zweites Vorzeigeobjekt ist Tobias Wollborn, Musikproduzent und Inhaber des Labels „Vinyllover Recordings“. Nach zwei Jahren harter Arbeit releaste der talentierte Göttinger Nachwuchskünstler Ende August sein zwölf Tracks starkes Erstlingswerk „Imaginary Journey“, das nun den weltweiten elektronischen Musikmarkt erobern soll.
Als der neunjährige Toby vor fast 20 Jahren total geflasht vor der Glotze saß, während sich die Plattenjongleure der deutschen Hip-Hop-Szene bei den nationalen Scratch-Meisterschaften mit fetten Beats übertrumpften, hatte er nur einen Gedanken: „Das, was die da machen, will ich auch! Als ich daraufhin zu meinem 10. Geburtstag die ersten Turntables von meiner Mutter geschenkt bekam, wusste ich sofort, dass Musik meine Passion ist, die ich später zu meinem Beruf machen will.“
Zwischen Genie …
Anfang Oktober dieses Jahres publizierte das internationale Indie-Music-Online-Magazine „jamsphere.com“ mit Sitz auf den Bahamas eine Plattenkritik über Tobys Release und feierte das Album als „einen Triumph des Minimal-Techno.“ Roh, reduziert, ohne viel Geklingel oder überlagertem Instrumentalmatsch, dennoch klangvoll und tanzbar präsentiert sich die „erste wirklich ernstzunehmende Arbeit“ des 26-Jährigen, die er derzeit noch ausschließlich digital über die Musikplattform beatport.com vertreibt. Feinschliff und Mastering der elektronischen „Phantasiereise“ made in Göttingen übernahm am Ende die Frankfurter Techno-Szenegröße Brian Sanhaji. Doch Tobys Hauptaugenmerk liegt längst nicht nur auf der Produktion und Vermarktung seiner eigenen Werke. Als Inhaber eines Indie-Labels sucht er nach neuen Musiktalenten und unterstützt sie bei Aufnahmen, Mastering sowie Promotion und Marketing. Darüber hinaus möchte er pro Jahr mehrere Releases herausbringen – von Various-Artists über Eigenproduktionen, von Singles über EPs bis zu LPs. Dass der gelernte Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizung- und Klimatechnik jetzt seinen beruflichen Kindheitstraum lebt, statt ihn nur zu träumen, ist das Resultat eines unbeirrten, obgleich nicht immer gradlinigen Karriere- und Lebenswegs. Vor einigen Jahren kam er vom Pfad ab, verlor seinen Fokus und sich selbst, um am Ende wie Phönix aus einem ziemlich großen Haufen Amphetaminen wieder aufzusteigen.
… und Wahnsinn …
Toby, der unter dem Künstlernamen „Disscut“ firmiert, experimentierte zuerst mit Hip-Hop-Beats, bis er durch einen Track des deutschen Housemusic-Erfolgsduos Spencer&Hill zur elektronischen Tanzmusik fand. „Da war ich circa 18 Jahre alt und hatte mir dank verschiedener Schülerjobs und jedes entbehrbaren Cents meines Ausbildungsgehalts bereits ein respektables Repertoire an Produktions-Equipment angeschafft und mir in jeder freien Minute autodidaktisch die dazugehörigen Skills angeeignet.“ Direkt nach dem Abschluss seiner Berufsausbildung meldete er ein Gewerbe als DJ, Entertainer sowie als Dienstleistungsunternehmer für Sprach-, Band- sowie Gesangsaufnahmen an und widmete sich der Studioarbeit. Bis zu seinem 23. Lebensjahr, sei er ein recht introvertierter Künstler gewesen, der sich in seinem Aufnahme- und Produktionsstudio Marke professioneller Eigenbau damals hauptberuflich in Opas Keller austobte, um dort gegen Bares auch noch das schlechteste Gesinge aufzunehmen. Karnevalskombos waren genauso in seiner Gesangskabine zu Gast wie kleine Mädels, die für ihre Großeltern eine Weihnachts-CD einsingen wollten. „Auch wenn das Ave Maria, geträllert von teils sehr untalentierten Vorpubertierenden, nicht zu meinen favorisierten Tracks gehört und mich nach stundenlanger Dauerschleife teilweise in den Wahnsinn trieb, musste ich damals als kommerzieller Musikstudioinhaber auch bei diesen Aufträgen Vollprofi sein“, erinnert sich der gebürtige Bilshäuser, der sein Studio vor einigen Monaten nach Reyershausen verlegte und derartige Jobs heute nicht mehr annimmt.
… lag eine schmale Line.
Durch seinen Auftritt im Göttinger Stadtradio wurde die hiesige Elektromusikszene vor ein paar Jahren auf Toby aufmerksam. „Dieser Radiogig war seinerzeit mein Sprungbrett, um sowohl erste Kontakte zu Göttinger Musikern zu knüpfen, als auch durch neue, falsche Bekanntschaften direkt und mit Anlauf einen Flachköpper in den Drogensumpf zu unternehmen“, stellt er rückblickend sowie Letzteres auch mit Bedauern fest und fügt hinzu: „Jeder der den Film ‚Berlin Calling‘ kennt, kann sich in etwa vorstellen, wie mein Leben anno 2014/15 abgelaufen ist.“ Um die Handlung kurz auf den Punkt zu bringen: Talentierter Musiker, falsche Kontakte, Drogenkonsum. Verschiedene Gigs, mehr Konsum. Erfolg, noch mehr Konsum. Absturz, Entgiftung, clean werden, Konsum entsagen, um dann überhaupt erst richtig durchzustarten. „Zu meiner krassesten Zeit stand ich trotz 15-jähriger Erfahrung mitunter wie ein Depp vorm Mischpult, konnte mich nicht mehr konzentrieren und dachte nur noch ‚Oha, das sind aber viele Knöpfe‘. Vollgedröhnt mit Chemie konnte ich mich weder auf das Publikum einlassen, noch den Ansprüchen der Veranstalter geschweige denn meinen eigenen Ambitionen gerecht werden“, erzählt Toby, der damals des Öfteren seinen Job verkackte, ohne es wirklich zu realisieren. „Mit einem Künstler oder Musiker hat das dann nicht mehr viel zu tun und ist von Professionalität ganz weit entfernt“, ist er sich heutzutage bewusst. Auch als Produzent habe er sich nicht mehr weiterentwickeln können, denn „Inspiration und Kreativität blieben mir neben täglich-nächtlichem Geschrammel, stundenlangen Afterhours und einem völlig zerstörten Biorhythmus sozusagen direkt in der Nase stecken“, scherzt Toby und wird ad hoc wieder ernst: „Durch den Konsum verschiedenster Substanzen habe ich mir einfach entwicklungs- und karrieretechnisch einen so großen Stein vor die Füße geworfen, dass ich mehrere Monate und professionelle Hilfe brauchte, um über ihn hinweg zu klettern und wieder im wirklichen Leben anzukommen. In diese Scheinwelt will ich nie wieder zurück.“ Hätte Toby – und da ist er sich sicher – nichts an seinem Verhalten geändert, sondern weiter „gefeiert und gestofft“, würde seine „Imaginary Journey“ auch jetzt noch ausschließlich in seinem Kopf stattfinden und nicht von Plattenkritikern internationaler Online-Musikmagazine über den grünen Klee gelobt werden.
www.soundcloud.com/disscut
www.facebook.com/disscutofficial
www.vinyllover-recordings.com
www.beatport.com/artist/disscut/568686
PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 2. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im Oktober 2016.
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