Fachkräftemangel everywhere

#Arbeit+Leben  

Nachdem wir in der letzten Ausgabe den Fachkräftemangel in der Politik auf den Objektträger gelegt haben, rücken wir nun die Basis in den Fokus. Dabei stellen wir fest, dass viele Unternehmen hier etwas an den Tag legen, das unsere werten Politiker oft nur im Duden unter E finden: Entschlussfreude. Was das bedeutet, werden wir hier für Euch umreißen.

[Text: Manfred Langer aka Manni | Illustrationen: Niclas Kersting]

Was haben die Wählerschaft etablierter Parteien und die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland gemeinsam? Richtig: Ihre Zahlen sind eingebrochen. Was manche Parteien in ein paar Jahren geschafft haben, gelang bei den Arbeitslosenzahlen erst über einen Zeitraum von anderthalb Dekaden. Dafür kann sich das Ergebnis sehen lassen, denn die Arbeitslosenquote ist so entspannt wie schon lange nicht mehr. Konkret heißt das: 2019 war im Schnitt rund 5,1% der erwachsenen Bevölkerung arbeitslos, während sich die Zahl 2004 noch auf 11,7% belief. In Anbetracht dieser Entwicklung würde Detlef Scheele, Vorstandsvorsitzender der Agentur für Arbeit, sicher gern auf den goldenen Buzzer kloppen und den ganzen Laden in die nächste Runde schicken. Aber leider hat er keinen. Nun kennen wir natürlich die ganzen Tricksereien der Statistiker, bei denen sie – vornehmlich im Antlitz heraufziehender Wahlen – ein Heer von Arbeitslosen in Bildungs- und Qualifizierungsprojekten zwischenparken, um diese Zahl noch ein wenig nach unten zu pimpen. Denn wer sich in einem solchen Projekt befindet, gilt nicht mehr als arbeitslos. Das SGB III macht's möglich. Dort steht in §138 Satz 1, Abs.1: „Arbeitslos ist, wer Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer ist und nicht in einem Beschäftigungsverhältnis steht...“ Als Teilnehmer*in eines solche Projekts ist man also nicht mehr arbeitslos, denn man hat schließlich was zu tun. Na gut. Von mir aus. Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Arbeitslosenquote sich in diesen fünfzehn Jahren insgesamt positiv entwickelt hat. Wir befinden uns in einer Arbeitsmarktsituation, die man sich als jemand, der einen Job sucht, durchaus zunutze machen könnte. Oder sollte bzw. dürfte. Am besten sollte man sie sich zunutze machen wollen. Nein, nicht nur wollen, man muss. Diese Lage muss man sich zunutze machen. Am besten gestern schon. Der gern zitierte Berliner würde hier fragen: Watt? Wie datt denn?

Janz einfach: Angebot und Nachfrage

Sehr viele Arbeitgeber*innen hierzulande sind händeringend ebenso auf der Suche nach Aushilfskräften wie nach Fachpersonal. Das wiederum führt zu großer Kompromissbereitschaft der Personaler. Wo vor fünfzehn Jahren ein Arbeitgeber noch großspurige Anforderungen an die Bewerber*innen stellen konnte, sieht die Sachlage in der Gegenwart etwas anders aus. Die Zeiten, in denen man als Chef auf eine Stellenanzeige im örtlichen Käseblatt vierunddreißig Bewerbungen von der Sekretärin auf den Schreibtisch geknallt bekam, sind vorbei. Snow from yesterday. Heute: Vier Bewerbungen – wenn's hochkommt. Davon vier Quereinsteiger. Drei mit Patchwork-Lebenslauf, der vierte ist siebzehneinhalb. Was also tun, wenn die Auftragsbücher voll sind? Wir befinden uns in einer Phase, in der viele Arbeitgeber sich von den strengen Vorgaben ihres Anforderungsprofils verabschieden müssen. In der die Bewerber*innen durchaus sehr konkrete Forderungen stellen können. Und erfüllt bekommen. Das bedeutet für Dich: Da draußen herrscht eine Art Goldgräberstimmung. Die Chancen, beruflich zu neuen Ufern aufzubrechen und erfolgreich zu sein, stehen gut. Die Möglichkeit, Deine Träume wahr werden zu lassen, ist so präsent wie lange nicht. John Wayne würde sagen: „Spann die Gäule vor den Wagen und folge dem Treck in Richtung Westen.“

Andere Auswahlkriterien

Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Bewerbungsprozedere. Selbiges ist inzwischen etwas anders gestaltet als noch vor ein paar Jahren. Liest man auf der Suche nach einem Job die Stellenanzeigen, haben viele Menschen das Gefühl, dem Anforderungsprofil der beschriebenen Stelle zu einhundert Prozent entsprechen zu müssen.  Doch diese Annahme ist falsch. Im Alltag zeigt sich, dass die Stellenanzeigen zwar konkret schildern, welche Anforderungen auf den potenziellen neuen Mitarbeiter zukommen. Als Bewerber, der diese nur zu achtzig oder sechzig Prozent erfüllt, stehen die Chancen dennoch gut, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Denn die Auswahlkriterien müssen in vielen Branchen schon lange nicht mehr komplett erfüllt werden. Die Arbeitgeber schulen ihre neuen Mitarbeiter*innen inzwischen genau für die Aufgaben, die im Berufsalltag zu erfüllen sind. Zu was für Zugeständnissen und Investitionen Arbeitgeber bereit sind, zeigen zwei Beispiele.

Sylter Verkehrsgesellschaft, kurz SVG

Im Februar befand ich mich im Urlaub mit einem Freund auf der schönen Ferieninsel Sylt. Während wir dort mit einem Bus von A nach B fuhren, las ich ein Plakat, das hinter dem Fahrer angebracht war. Sofort rammte ich besagtem Freund den Ellenbogen in die Rippen und fragte ihn, ob er nicht Interesse hätte, sein bisheriges Leben einfach über Bord zu schmeißen und hier auf der Insel ein neues zu beginnen. Vollkommen alles auf null drücken. Was er denn davon hielte, fragte ich. Er sah mich an, als hätte ich gerade gesagt: „Sag mal, deine Jacke; gab's die auch in deiner Größe?“ Doch dann wies ich mit dem Daumen über meine Schulter auf das Plakat. Und was er dort las, brachte auch ihn zum Nachdenken. Denn die Sylter Verkehrsgesellschaft sucht händeringend Busfahrer. Und zwar so dringend, dass sie  bereit ist, nicht nur den Busführerschein für den Bewerber zu bezahlen, sondern ihm auch noch eine Wohnung auf der Insel Sylt zu verschaffen. Im Grunde muss man nur noch dort anrufen und den Rest erledigt die SVG. Auf der Insel zu leben gehört jetzt zwar nicht zu meinen favorisierten Lebensentwürfen, aber die Vorstellung, dort in meiner Freizeit Leuten wie Farin Urlaub oder anderen Koryphäen der deutschen Musikszene über den Weg zu laufen, fand ich hingegen sehr verlockend. Auch meine Begleitung war von dieser Vorstellung sehr angetan und sagte nach der Lektüre des Plakats: „Ich schmeiße meinen Job, kündige meine Wohnung und räume das Konto ab.“ Und so schwelgten wir den Rest des Tages in Fantasien, in denen wir als Busfahrer gut betuchte Insulaner in waagerecht peitschendem Regen stehen ließen. Oder sie bei Orkanwarnung auf halber Strecke zwischen Westerland und Hörnum mit den Worten „Endstation, raus ihr Luschen!“ aus dem Bus komplimentierten. Was wollte ich sagen? Ach ja, die Sylter Verkehrsgesellschaft. Sie ist kein Einzelfall. Ein Vorgehen, wie die SVG es an den Tag legt, findet sich auch in anderen Branchen und Unternehmen. So gehört die Deutsche Bahn seit einigen Jahren beispielsweise zu einem der größten deutschen Arbeitgeber, der im Bewerbungsverfahren die Bewerber eher nach ihren Qualitäten und Stärken einstellt und prüft, anstatt sich ausschließlich auf marode anmutende Be- bzw. Entwertungshilfen wie Abschluss- oder Arbeitszeugnisse von vorherigen Arbeitgebern zu verlassen. Sie laden ihre Klientel ein und stellen – auch in Assessment Centers – die individuellen Kompetenzen des Bewerbers fest. Und schauen dann, wo dieser seinen Stärken angemessen am besten eingestellt werden könnte. Bei aller Unpünktlichkeit des Unternehmens muss man hier klar sagen: in dieser Hinsicht ist die Deutsche Bahn rechtzeitig auf den fahrenden Zug aufgesprungen. Der Begriff fortschrittlich scheint durchaus passend. Auch was das Einstellen neuer Lokführer betrifft, hat das Unternehmen die Spendierhosen an. In fast jeder Samstags-Ausgabe des Göttinger Tageblatts ist in den Stellenangeboten seit Langem zu lesen, dass die Bahn und ihre Subunternehmen Lokführer händeringend suchen. Auch hier wird die Ausbildung vom Unternehmen bezahlt – mit garantierter Übernahme und unbefristetem Arbeitsvertrag. 

Bewerbungsklima Wünsch-Dir-was

Fassen wir noch einmal zusammen: Es gibt wenige Arbeitslose. Ein Fachkräftemangel ist allgegenwärtig. Viele Stellen müssen dennoch besetzt werden. Das führt dazu, dass mancher Arbeitgeber zu großen Zugeständnissen bereit ist. Daraus resultiert, dass die Zeit ideal ist, sich genau zu überlegen, was man beruflich wirklich will. Es herrscht ein Klima von Wünsch-Dir-was. Ist das nicht toll? Wenn die die gesamte Berufsorientierung aller Menschen vollkommen auf deren Interessen und Kompetenzen ausgerichtet wäre, also darauf, was man wirklich will, dann wäre die Welt eine andere, weil die Menschen viel zufriedener wären. Um herauszufinden, was Dein Traumjob sein könnte, lohnt sich übrigens ein ausgiebiger Blick auf Deine Hobbys. Denn eine Beschäftigung, in die man freiwillig viel Zeit, Geld, Liebe, Interesse und Optimismus investiert, kann als Richtung in der Berufswahl nicht verkehrt sein. Frag Dich und andere, welchen Job Du ausführen würdest, wenn Du einfach machen könntest, was Du willst. Wirklich willst. Wie viele von uns würden die Arbeit nennen, die sie aktuell verrichten? Jede Berufswahl, die nicht ausschließlich auf der ehrlichen Beantwortung dieser Fragen basiert, ist im Grunde genommen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Und falls Dir Papas ermahnender Satz „Aber Kind, Du musst doch was Vernünftiges machen!“ immer noch im Kopf herum geistert; binde ihn beim Aufbruch mit dem Eldorado-Treck an der Veranda fest und winke ihm zu, bis Du im Sonnenaufgang Deiner beruflichen Wunschvorstellung verschwindest.

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 19. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im November 2019. 

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