Frau Pauli und die Angst vor der Liebe
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Neulich traf ich Frau Pauli nach einem Konzert in der musa und wir gerieten in eine heiße Diskussion über die Liebe. „Damit bin ich durch!“, stellte die emotional-brachiale Göttinger Singer-/Songwriterin rabiat fest, was mein verblüfftes Ich weder wahrhaben noch akzeptieren wollte. Nun war es unumgänglich: Diese fesselnde Frau und ihr brandneues Album Digitale Gefühle mussten dringend ergründet werden …
[Text: Vanessa Pegel | Fotos: Frau Pauli, Vanessa Pegel]
Ich gehe davon aus, dass ich kein langes Leben haben werde“, sagt Frau Pauli trocken, als sie ein paar Wochen später im VONWEGEN-Wohnzimmer sitzt. Ihre Cousine sei schon mit 17 gestorben und ihre Mutter mit 58. Magenkrebs liege bei ihr in der Familie. „Deswegen denke ich immer alles vom Ende her, achte genau darauf, was mir Dinge wert sind, und sage zu vielen Sachen nein.“ Ein bewusstes Leben ist ihr somit auf grausame Art und Weise in die Wiege gelegt worden. Immerhin weiß sie dadurch zu schätzen, was die meisten Menschen nicht ermessen können: den Wert jeder Sekunde Lebenszeit.
Post-Pandemie-Pop
Die Gefühle sind weg heißt das erste Stück auf ihrer neuen Platte und erzählt – umschmeichelt von Trap-Beats, motzigen Vocals und Fanfaren – davon, was die pandemische Zeit mit der Herzblut-Sängerin in ihr gemacht hat: „Vor Corona war ich meine Musik, aber mittlerweile habe ich festgestellt, dass ich auch ohne sie leben kann, wenn sie mir gerade nicht gut tut.“ Der unwiderstehliche Drang zum Musizieren sei ihr während dieser „qualvollen“ Zeit kurzweilig abhanden gekommen, auch wenn sie glücklicherweise trotzdem nicht damit aufgehört hat. „Weil ich nicht anders kann, als mein Leben und diese Welt in meinen Songs zu verarbeiten“, sagt die nach eigenen Angaben „total soziophobe“, typische Zwillings-Frau, deren Aura allerdings ein taffes Selbstbewusstsein verströmt, das viele Menschen für Arroganz halten. Als Teenagerin trieb sie sich zum Leidwesen ihrer Eltern [ihre Mutter war Anwältin] auf Demonstrationen herum, avancierte in der Hausbesetzer:innen-Szene von Connewitz zu einem beschriebenen Blatt und sorgte bereits damals dafür, dass nach ihrem späteren Ethnologie-, Politik- und Pädagogik-Studium eine Verbeamtung für sie keine Option mehr war.
Die Gesichter der Depression
„Es gibt in mir eine Traurigkeit, die so tut, als wäre sie zu allem bereit, versteckt sich hinter Zynismus und Wut und redet mir ein, sie sei zu irgendwas gut. […] Es gibt in mir eine Traurigkeit, die frisst mehr, als sie kotzen kann, und wenn ich sage, ich kann nicht mehr, schreit sie, sie fängt gerade erst an.“ [Traurigkeit]
Der letzte Song auf ihrem neuen Album, das übrigens ab dem 16. Juni die Regale der Schallplatten- und CD-Läden ziert, handelt von den verschiedenen Gesichter der Depression – „eine Erkrankung, die 23 verschiedene Unterarten hat und deswegen oft verkannt wird, weshalb sich viele Menschen das Leben nehmen“, sagt Frau Pauli. Bei zu viel Zynismus könne man beispielsweise stutzig werden oder bei Leuten, die immer fröhlich seien, und dieser Song könne hilfreich sein, eine etwaige Depression bei Freund:innen ein bisschen besser zu erkennen.
„Ich habe so eine Grundtraurigkeit im Leben und denke eigentlich jeden Tag über den Tod nach. Das ist nicht besonders erheiternd“, sagt sie. „Aber nach vielen Jahren Therapie habe ich mir gute Waffen angeeignet, um dagegen an zu gehen: Auch mal loszulassen und mich nicht wie früher immer durchzuboxen oder mich dazu zwingen, bewusst gute Dinge zu tun, wie mich beispielsweise mit jemanden zu treffen und dann zwar nicht über meine, aber über dessen Probleme zu reden, auch wenn mir die Depression einredet, das geht nicht. Für mich kann ich in solchen Momenten wenig wertvoll sein, aber für andere schon.“ Sie habe allerdings auch eine hochfunktionale Depression, und könne sehr lange ihr Programm abspulen, räumt sie ein. Um die Einbrüche gering zu halten, hätten sich eine geordnete Tagesstruktur mit einer Stunde Sport und ein bisschen Kochaktion als sehr hilfreich erwiesen.
Bester Verlierer der Stadt
„Ich bin vielleicht müde, aber noch lange nicht satt.“ [Bester Verlierer der Stadt]
In ihrem Song Bester Verlierer der Stadt, der sie übrigens selbst ist, besingt Frau Pauli in stillen Tönen den Wettbewerb der Loser und kommt zu dem Entschluss, dass sie, die übrigens anfangs mal ein Duo war, die Fähigkeit besitzt, überhaupt niemanden zu brauchen. Ob es sich dabei um eine Superkraft oder eine verhängnisvolle Affäre mit sich selber handelt, bleibt allerdings irgendwie offen. Ein Musik-Studio hat die chaotische, kreative, aber auch disziplinierte Workaholicerin noch nie von Innen gesehen. Sie spielt alles alleine bei sich zu Hause ein. „Danach setze ich mich mit meinem besten Freund Max Remmert von der Band Alter Kaffee aus Kassel zusammen und wir produzieren gemeinsam das Endergebnis. Manches wird nur glatt gezogen, anderes umgeschmissen und neu gemacht.“
Digitale Gefühle ist bereits Frau Paulis drittes Album. Drei Jahre hat sie daran herumgeschraubt und ist in der Corona-Zeit auch schon mal daran verzweifelt, hat ihre musikalische Arbeit links liegen gelassen und sich aus lauter Frust einen „richtigen“ Job als PR-Verantwortliche im Theater der Nacht in Northeim gesucht, wo sie seither auch Schreib-Workshops anbietet. „Während Corona kam vieles nochmal hoch“, erinnert sie sich, „vergangene Beziehungen, generelle emotionale Instabilitäten, Konflikte und Weltschmerz. Wie man das alles digital lösen soll, das habe ich immer noch nicht verstanden. Ob der Mensch nicht doch ziemlich analog veranlagt ist?“ Ihre gemütlich-groovige Singleauskopplung Fremdes Haus über eine verflossene Liebe ist bisher am erfolgreichsten und läuft aktuell sogar sehr oft im Deutschlandfunk.
↑ Frau Pauli mit ihrer neuen scharfen Scheibe im VONWEGEN-Wohnzimmer
Angst vor der Liebe
Während Frau Pauli mit ihrer neuen scharfen Scheibe, dessen Cover übrigens ihre 13-jährige Tochter Amadea gemalt hat, bei uns im Wohnzimmer sitzt, geht es dann endlich auch an die wahrscheinliche Wurzel des Übels ihrer eingangs erwähnten Liebesentsagung: Vier Tage nach der Geburt trennte sie sich vom Vater ihres Kindes, weil er fremdgegangen war. Frisst das Loch in ihrem Herzen jegliches herannahende Liebesglück auf und spuckt es in tragisch schönen Songtexten wieder aus?
„Ich hatte zu große Angst davor, baden zu gehen, ich schwamm bis zur Mitte und da blieb ich stehen. Mit dem Füßen im Wasser, dem Kopf im Regen, fing ich an, Gefühle in Cluster zu zerlegen und das, was mir Angst macht, sauber zu ordnen in wohl überlegten, analytischen Worten.“ [Fremdes Haus]
„Ich kann es einfach nicht, auch wenn ich es will. Es endet immer gleich“, sagt Frau Pauli. „Ich verliebe mich, doch anstatt den ersten Schritt zu machen, renne ich lieber weg oder benehme mich daneben, und dann endet es immer unglücklich. Darüber kann man zwar tolle Songs schreiben, aber mehr eben auch nicht.“ Sie boykottiert die Liebe also wirklich selber – je interessierter, desto affektierter? –, fragt sich die Hobbypsychologin in mir. „Falls darauf jemand steht, kann er sich bitte mit Chiffre an VONWEGEN bei mir melden“, schmunzelt Frau Pauli mit einem resignierenden Kopfschütteln, während ich bereits davon überzeugt bin, dass unser Briefkasten vor lauter charmanten Zuschriften schon bald aus den Fugen gerät. Handelt es sich doch bei dieser Frau Pauli, die übrigens mit Vornamen Susanne heißt, ganz eindeutig um ein zwar manchmal zauderndes, aber doch absolut bezauberndes Wesen der besonderen Art.
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Wer die wunderbare Frau Pauli live und in Farbe sehen und hören will, hat an folgenden Terminen die ultimative Gelegenheit dazu:
★ 15.06.2023: Konzert im Stadtradio Göttingen 107.1
★ 17.06.2023 um 20 Uhr: Releaskonzert in der St. Petri Kirche Grone mit Feuershow von Salto Luminale im Anschluss
★ 25.06.2023: Zeitfrei Festival auf Gut Steimke in Uslar
★ 30.06.2023: Kulturfabrik Salzmann in Kassel
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