Macht und Protest

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Wenn 600 Polizist*innen die Stadt verstopfen, um in zwei Göttinger Wohnungen nach Beweisen für Gewaltdelikte während des G20-Gipfels zu suchen, dann fragt man sich ernsthaft, ob das nicht ein bisschen übertrieben ist. Deshalb sprachen wir mit dem Polizeipräsidenten Uwe Lührig über den Gipfel und seine Konsequenzen. 

[Text: Vanessa Pegel | Illustration: Niclas Kersting]

 

 

Hallo Herr Lührig, können Sie eigentlich die Beweggründe der G20-Demonstrant*innen verstehen?

Ich kenne die Beweggründe aller Demonstrant*innen nicht. Aber es haben natürlich auch viele friedliche Demonstrationen in Hamburg stattgefunden, über die allerdings kaum berichtet wurde. Ich glaube aber, dass wir die Globalisierung nicht vermeiden können, und dazu brauchen wir natürlich auch Staaten, die miteinander kommunizieren und sich absprechen. Ansonsten bin ich froh, dass bei uns jeder seine Meinung frei äußern kann und dazu auch Demonstrationen durchführen kann.

Während des G20-Gipfels geriet das Machtgefüge kurzzeitig ins Wanken, sodass auf Hamburgs Straßen bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Im Anschluss daran wurde dort eine Ermittlungskommission gegründet, die nun damit beschäftigt ist, die gewalttätigen Vorfälle aufzuklären. In diesem Zusammenhang wurden am 05.12. mit einem extremen Polizeiaufgebot zwei Göttinger Wohnungen durchsucht. Wollte die Polizei mit ihrer angsteinflößenden Vorgehensweise ihre Macht beweisen?

Die Polizei tritt nirgendwo auf, um Macht zu beweisen, das sage ich ganz deutlich. Die Polizei macht professionell ihre Arbeit. Sie hat einen ganz bestimmten Auftrag und diesen Auftrag nimmt sie wahr. Zum Einsatz am 05.12. kann ich nicht allzu viel sagen, weil er nicht in der Verantwortung und auch nicht in der Einsatzleitung der Polizeidirektion Göttingen lag.

Es war also niemand von der Göttinger Polizei dabei?

Doch, neben Beamt*innen aus der zentralen Polizeidirektion Niedersachsen waren zur Einsatzunterstützung auch Beamt*innen aus Göttingen beteiligt, die unter anderem Verkehrsregelungen betrieben haben, weil die vielen Polizist*Innen aus Hamburg natürlich reibungslos ihre Zielorte erreichen mussten.

Wie viele waren es noch gleich?

Es waren insgesamt sechs Hundertschaften im Einsatz, die natürlich nicht alle in die Häuser reingegangen sind.

Dann wäre dort auch kein Platz mehr gewesen …

Bei derartigen Einsätzen sind natürlich auch Absperrungen notwendig und ich glaube, ich verrate Ihnen nichts Neues, wenn ich Ihnen sage, dass in der linken Szene Aufklärungsmaßnahmen und Alarmierungen durchgeführt werden. Deshalb war die Taktik der Polizei, zu einem bestimmten Zeitpunkt bundesweit schlagartig in die Objekte einzudringen. In Göttingen wurde das an zwei Orten gemacht, bei dem einen hat man die Polizei frühzeitig gesehen und die Tür geöffnet, bei dem anderen sind die Beamt*innen schlagartig reingegangen.

Stand im zweiten Fall nicht sogar jemand daneben, der schon einen Schlüssel gezückt hatte?

Das ist mir nicht bekannt, ich habe aber gehört, dass mit kurzer Verzögerung jemand gesagt haben soll: „Hättet Ihr mich gefragt, hätte ich Euch aufgeschlossen.“

Wie läuft denn das eigentlich im Vorfeld eines solchen Einsatzes? Wird zuvor besprochen, dass man ruhig mal ein bisschen auf die Pauke hauen kann oder entwickelt sich das eher spontan in der Hitze des Augenblicks?

Wie gesagt: Wir wollen keine Angst und keinen Schrecken verbreiten, wir setzen in vielen Bereichen auf Überraschungsmomente. Deshalb wird bei bestimmten Hausdurchsuchungen auch nicht vorher geklingelt, sondern schlagartig eingedrungen, weil wir verhindern wollen, dass Beweismittel vernichtet werden.

Aber dafür hatten die Verdächtigen nach dem G20-Gipfel doch schon über fünf Monate Zeit. 

Vielleicht wussten sie aber nicht, dass sie sich im Blickpunkt der Ermittlungskommission aus Hamburg befinden, die zuvor unglaublich viel Videomaterial ausgewertet und bereits andernorts Wohnungen durchsucht hatte, wobei z.B. Kleidungsstücke, Computer und Handys sichergestellt wurden. Die Durchsuchungen in Göttingen wurden von der Hamburger Polizei bei neutralen Richter*innen beantragt und genehmigt. Die Polizei kann also nicht einfach losgehen und Göttinger Bürger*innen verschrecken, wie Sie es scheinbar vermuten.

Ich glaube durchaus, dass die Polizei dabei im Sinn hat, ihrer Aufgabe – nämlich für Recht und Ordnung zu sorgen – nachzukommen, aber ich halte es auch für möglich, dass sich nach den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Hamburg die Maßstäbe verschoben haben. Deshalb frage ich mich, ob es nicht vielleicht sogar „normal“ ist, wenn die Polizei härter vorgeht, um unser friedliches Beisammensein zu sichern.

Nein, das ist nicht normal, denn die Polizei geht nach Recht und Gesetz vor – sollte sie jedenfalls. Deshalb ermittelt die Ermittlungskommission aus Hamburg auch nicht nur gegen G20-Gipfel-Straftäter*innen aus den Reihen der Demonstrant*innen, sondern auch aus den Reihen der Polizei. Die Aufgabe der Polizei ist es, lageangemessen tätig zu werden. Wenn wir uns im Rahmen der organisierten Kriminalität oder der Terrorismusbekämpfung befinden, gehen wir natürlich ganz anders vor als beispielsweise bei der „normalen“ Kleinkriminalität. Es werden also immer lageangepasste Maßnahmen getroffen. Deshalb wird sich auch das Einsatzkonzept aus Hamburg an den Gegebenheiten orientiert haben. Was während des G20-Gipfels abgegangen ist, haben schließlich Millionen von Fernsehzuschauer*innen gesehen – und damit meine ich nicht die vielen friedlichen Demonstrant*innen, denn die wurden kaum gezeigt –, sondern, dass dort z.B. Türen eingetreten, Scheiben eingeschlagen, Autos angezündet und Lebensmittelmärkte geplündert wurden. Mal ganz davon abgesehen, dass der Staat bei derartig schweren Straftaten dazu verpflichtet ist, wird natürlich auch von Millionen Bürger*innen erwartet, dass Maßnahmen ergriffen werden, damit so etwas nicht noch mal passiert.

Ob sich die Verdachtsmomente gegen die hiesige linke Szene bestätigt haben, werden Sie mir wahrscheinlich nicht verraten …

Wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen dennoch nicht sagen, weil es sich dabei um laufende Verfahren handelt, aber ich weiß es tatsächlich nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass die Ermittlungen in Hamburg geführt werden, wird es auch noch einige Zeit in Anspruch nehmen, um die gesammelten Informationen auszuwerten. Denn bei den bundesweiten Hausdurchsuchungen sind eine Vielzahl an Festplatten und Handys sichergestellt worden, die nun erstmal ausgelesen werden müssen.

Gab es denn nun eigentlich Verletzte bei den Hausdurchsuchungen in Göttingen?

Einen gab es leider auf jeden Fall – nämlich denjenigen, der hinter der Tür stand, als sie eingetreten wurde.

Warum wurde das zuerst von der Polizei bestritten?

Während eines bundesweiten Einsatzes, bei dem eine Vielzahl von Örtlichkeiten durchsucht werden, müssen die Informationen im Nachhinein erstmal zusammengetragen werden. Deshalb hat sich die Göttinger Polizei dazu auch nicht geäußert, sondern die Hamburger Pressestelle. Wahrscheinlich ist diese Information dort im ganzen Wust aus Informationen zunächst untergegangen, doch später hat man durchaus darauf hingewiesen, dass es auch Verletzte gegeben hat.

Nun würde ich gerne noch etwas über die Geschehnissen auf der Demonstration, die aufgrund eben dieser Hausdurchsuchungen am 09.12. in Göttingen stattfand und bei der die Göttinger Polizei federführend war, erfahren. Dabei wurde in der Roten Straße ein Ordner der Demonstrant*innen von der Polizei regelrecht zusammengeschlagen, was ein Video beweist. Wie konnte es dazu kommen, und wäre es nicht gerade in dieser Situation besonders wichtig gewesen, dass sich die Göttinger Polizei auf ihre deeskalierenden Strategien konzentriert?

Allem voran: Der Einsatz hat insgesamt eineinhalb Stunden gedauert und war dabei zwei Minuten unfriedlich. Es gab zwei Situationen, die dazu geführt haben, dass es zu dieser Szene kam, über die ich und der Gesamteinsatzleiter alles andere als glücklich sind. Weil die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufgenommen hat, muss ich mich bedeckt halten, aber ich kann Ihnen sagen, dass im Vorfeld einige vermummte Demonstrant*innen versucht haben, von der Aufzugstrecke abzuweichen, woraufhin sie von den Polizeibeamt*innen zurückgedrängt worden sind. In der Roten Straße ist dann der vermummte Block geschlossen auf die vor ihm stehenden Einsatzkräfte zugelaufen. Dabei kam es dann – wie in dem Video auch zu sehen ist – zur Bedrängung der Polizeibeamt*innen, aber es kam auch temporär zu einem harten Polizeieinsatz, der nun durch die Staatsanwaltschaft überprüft wird.

Man kann also schon davon ausgehen, dass Sie sich Ihre Leute nach derartigen Einsätzen zur Brust nehmen?

Wenn wir mitkriegen, dass Polizist*innen Straftaten begehen – und wir kriegen leider nicht alles mit –, dann nehmen wir sie uns nicht zur Brust, sondern es werden Ermittlungsverfahren eingeleitet. Allerdings vermute ich, dass es ohne dieses Video wahrscheinlich nicht dazu gekommen wäre, deshalb bin ich froh, dass es diese Bilder gibt.

Ich bedanke mich für dieses Gespräch.

 

 

Warum auf dem G20-Gipfel demonstriert wurde

Weil nicht nur der Polizeipräsident, sondern auch Millionen Fernsehzuschauer*innen die eigentlichen Gründe für die G20-Proteste aufgrund der gewalttätigen Übergriffe einiger Demonstrant*innen und Polizist*innen aus den Augen verloren haben, komme ich nun noch darauf zu sprechen und möchte zur Einstimmung mit Friedrich Nietzsche beginnen: „Was der Mensch will, was jeder kleinste Teil eines lebenden Organismus will, das ist ein Plus von Macht“, schrieb Nietzsche. Die Lust an der Macht erkläre sich aus der hundertfältig erfahrenen Unlust der Abhängigkeit, Unterdrückung und Ohnmacht. Dagegen bringe der Machtgewinn ein Gefühl von Freiheit – und dabei solle man doch gefälligst ehrlich zu sich selbst sein, forderte Nietzsche. Das Leben sei „wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigener Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens Ausbeutung“. Nietzsche hielt nicht viel vom Homo Sapiens, deshalb wäre er wahrscheinlich überrascht gewesen, dass so viele, überwiegend friedliche Menschen auf Hamburgs Straßen gegen die ausbeuterischen Zustände in unserer globalisierten Welt demon­striert haben, während sich die Crème de la Crème der dafür Verantwortlichen auf dem G20-Gipfel zu einem Tête-à-tête traf.

Zu den Zuständen

Die Globalisierung hat zwar viel Freiheit gebracht, aber sie hat auch einige Menschen sehr reich und die Mehrheit der Weltbevölkerung noch ärmer gemacht. Arbeitsplätze gehen verloren, weil Unternehmen in Billiglohnländer abwandern. Die Sozial- und Gesundheitssysteme sind überlastet und die Kinderarmut steigt – auch hier in Deutschland –, während der reiche Teil der Bewölkerung immer weniger Steuern bezahlt. Denn Geld bedeutet Macht und diese Macht übt es auch auf die Regierungen unserer Welt aus. Wer sich Wahlkampfspenden, Steuergelder, Arbeitsplätze für die Bevölkerung und nach seiner politischen Karriere selbst einen lukrativen Job verspricht, tritt seinen „Gönnern“ nur ungern auf die Füße. Deshalb dürfen viele großen Konzerne und ihre Lobbyvereine oft machen, was sie wollen – selbst wenn andere Menschen und unsere Umwelt dabei erheblichen Schaden nehmen. Weil das Geld die Welt regiert, dürfen deutsche Unternehmen Waffen in Krisengebiete verkaufen, deshalb leugnet Trump den Klimawandel und darum bleibt Glyphosat auch noch weitere fünf Jahre erlaubt. Hinter Umweltzerststörung und Ungerechtigkeit, Armut und Krieg, Diskriminierung, Sozialabbau und Rassismus stehen meistens wirtschaftliche Interessen. Genauer gesagt: die scheinbar unstillbare Gier, reicher und mächtiger zu sein als andere. Dabei ist den wenigsten Menschen bewusst, dass sich Reichtum und Armut gegenseitig bedingen und der reichere Teil der Weltbevölkerung auf Kosten der Armen lebt.

Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind

Um sich das besser vorstellen zu können, hier ein Beispiel von unzähligen: Laut UN-Angaben stirbt weltweit alle fünf Sekunden ein Kind an Unterernährung oder an heilbaren Krankheiten, weil die Pharmakonzerne ihre Milliardengewinne lieber ihren Shareholdern in die Taschen oder in großangelegte Marketingmaßnahmen stecken, anstatt mit ihren patentierten Medikamenten weltweit Leben zu retten. Andere Konzerne bauen auf den Feldern in den Entwicklungsländern Getreide für die Viehfutterproduktion an, um den Fleischkonsum in den reichen Industrieländern zu ermöglichen, während dort die Menschen verhungern.

Obwohl unsere Erde laut UN-Welternährungsbericht in der Lage wäre – sogar ohne Gentechnik und Raubbau an der Natur – 12 Milliarden Menschen zu ernähren, sind wir mit 7 Milliarden meilenweit davon entfernt, dass alle satt werden, und voll dabei, unseren Planeten zu zerstören. „Die soziale Verantwortung der Wirtschaft ist es, ihre Profite zu vergrößern“, so sagt es der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman. Deshalb können wir nur hoffen, dass die Triebfeder der Regierungen dieser Welt letztlich nicht das Geld, sondern das Wohl unseres Planten und seiner Bewohner*innen ist. Denn wie wir mit unserer Erde umgehen, was wir ihr abverlangen und anderen Menschen zumuten, liegt in ihrer Macht.

Alle fünf Sekunden ein Kind. Das kann einem ganz schön an die Nieren gehen, wenn man mal darüber nachdenkt. Dann möchte man gemeinsam mit unzähligen anderen friedlichen Demonstrant*innen während des G20-Gipfels gegen diese Zustände ein Zeichen setzen und bekommt stattdessen auf den Straßen Hamburgs das Fürchten gelehrt.

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 9. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im Januar 2018.

 

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