Null Toleranz
#Macht+Protest #Interview #Lokales
Wahrscheinlich lachen sich der Neo-Nazi Jens Wilke und sein sogenannter Freundeskreis ins Fäustchen, weil sich die linke Szene und die Polizei in Göttingen gegenseitig so gut auf Trab halten. Welche Rolle die Polizei dabei spielt, fragten wir den Polizeipräsidenten Uwe Lührig.
Herr Lührig, warum ist das Verhältnis zwischen der linken Szene und der Polizei in Göttingen Ihrer Ansicht nach so angespannt?
Ich glaube, das hängt sicher auch mit meinen beiden Vorgängern zusammen, die zuvor beim Verfassungsschutz tätig waren. Das war keine gute Voraussetzung, um ein gutes Verhältnis aufzubauen. Ich habe allerdings auch aus meiner nun zweijährigen Erfahrung als Polizeipräsident das Gefühl, dass es ein Problem mit dem Rollenverständnis der Polizei im Zusammenhang mit Versammlungen gibt.
Können Sie dieses Problem genauer definieren?
Die Polizei muss für Versammlungen jedweder Art einen Schutz bieten, denn in der Bundesrepublik Deutschland herrscht glücklicherweise das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. Deshalb ist es unsere Aufgabe, drauf zu achten, dass jeder seine Meinung äußern darf. Man muss diese Meinung zwar nicht respektieren, aber akzeptieren, dass es sie gibt. Wer glaubt, dass sich die Polizei auf die Seite der Rechten begibt, nur weil sie deren Kundgebungen schützt, der irrt sich gewaltig. Meine Kolleginnen und Kollegen möchten lieber nicht hören müssen, was die Rechten von sich geben, aber sie müssen sie schützen.
Wie könnte sich diese Situation verbessern?
Beispielsweise haben wir mit den verschiedenen Gruppierungen, die in Göttingen intensiv gegen rechts demonstrieren, auf Augenhöhe diskutiert und gute Hinweise bekommen, was wir verbessern können. Dazu gehören mehr Transparenz bei polizeilichen Maßnahmen, mehr Öffentlichkeitsarbeit und Lautsprecherdurchsagen, die während einer Demonstration erklären, warum bestimmte Maßnahmen ergriffen werden. Darüber hinaus haben wir einen Konfliktmanager in den Einsatz gebracht. Wir schulen unsere Beamten intensiv, bereiten die Einsätze noch intensiver vor und analysieren hinterher genau, wie es zur Eskalation gekommen ist. Daher glaube ich, dass schon leichte Verbesserungen eingetreten sind.
Die letzten Demonstrationen verliefen immer recht friedlich und teilweise sogar charmant satirisch, wie z. B. als das „Bündnis gegen Rechts“ am 10.09.2016 auf dem Bahnhofsvorplatz eine Spendengala organisiert hat und dank des Nazi-Aufmarschs 7.800 Euro für die Flüchtlingshilfe zusammenkamen. Ein Polizist bezeichnete das Ganze sogar als „die schönste Demonstration“, bei der er jemals im Einsatz war. Dennoch herrscht in der linken Szene mancherorts das Gefühl, dass im Nachhinein von Seiten der Polizei eine regelrechte Jagd auf bestimmte Demonstranten stattfindet. Woran könnte das liegen?
Das ist mir nicht vor Augen. Für meine Person kann ich ganz deutlich sagen: Es wird keine Jagd auf Linke gemacht. Definitiv nicht. Aber wenn Polizeibeamte – wie es sich ebenfalls auf dem Bahnhofsvorplatz ereignet hat – aus der Menschenmenge mit Kartoffeln und Auberginen, mit großen Gurken und Abfällen beworfen werden, dann ist das nicht zu tolerieren, denn das haben die jungen Kolleginnen und Kollegen nicht verdient. Ich schließe nicht aus, dass es auch Übergriffe von anderer Seite gegeben hat, aber bisher konnten wir keine Anzeigen feststellen, die das bewiesen haben. Und in der heutigen Zeit filmt schließlich nicht nur die Polizei. Auch auf youtube kann man sich sehr viele Einsätze anschauen, und ich kann dafür garantieren: Wenn irgendwo ein unrechtmäßiger Einsatz stattgefunden hat, dann gehen wir dem nach.
Zwischen 2012 und 2014 wurden 58 Verfahren gegen politisch linksorientierte Göttinger Demonstranten wegen „klassischer Demo-Delikte“, wie Widerstand gegen einenVollstreckungsbeamten, Landfriedensbruch und auch auffällig viele wegen Beleidigung, eingeleitet. Davon mündeten 10 in Anklagen, wovon 4 mit Freisprüchen endeten. Wie sehen diese Zahlen in Ihrer Amtszeit aus?
Wir haben für 2016 59 Verfahren, die wir im Bereich linksmotivierte Straftaten registriert haben, über deren Ausgang wir aber noch nichts sagen können. Dabei handelt es sich um Delikte wie gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, Verstoß gegen das Versammlungsgesetz, Widerstand gegen einen Vollstreckungsbeamten, Beleidigung ist einmal dabei, 10 Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung und 25 wegen einfacher Körperverletzung – darunter fällt beispielsweise das Bewerfen mit Auberginen.
Das sind relativ viele Verfahren – genau genommen, sind das für ein Jahr so viele Verfahren wie bei Ihrem Amtsvorgänger innerhalb von zwei Jahren. Woran liegt das?
Das hängt mit dem vermehrten Auftreten der rechten Szene zusammen. Da wir im letzten Jahr hier gefühlt jeden Monat eine Kundgebung der Rechten hatten, ist das logisch zu erklären.
Und wie viele Verfahren laufen gegen Nazis?
2015 verzeichneten wir keine rechtsmotivierte Straftat mit Demobezug und 2016 eine.
Für 2016 steht es also 59 zu 1. Wie kommt es, dass diese Zahlen so weit voneinander entfernt sind? Benehmen sich die Neo-Nazis auf Demonstrationen so viel besser als die Linken? Ist es nicht eigentlich auch verboten, den Hitlergruß zu zeigen, wie die Nazis es auf ihren Kundgebungen so gern tun? Müsste man dagegen nicht vorgehen?
Das Zeigen des Hitlergrußes in der Öffentlichkeit stellt eine Straftat gemäß § 86a StGB dar und wird – unabhängig davon, ob ein Versammlungsbezug vorliegt – von der Polizei verfolgt.
Unter diesen Umständen verwundert es mich noch mehr, dass 2016 nur eine rechtsmotivierte Straftat mit Demobezug festgestellt wurde. Es herrscht vielerorts der Eindruck, dass die Göttinger Polizei und insbesondere ihre „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit“ [BFE] unverhältnismäßig brachial mit Demonstranten aus der linken Szene umgeht und erstaunlich viel Energie darin investiert, sie vor Gericht zu bringen. Gleichzeitig scheint es an Polizeibeamten zu mangeln, wenn es darum geht, gewalttätige Nazi-Übergriffe zu verhindern, wie am Abend nach der Demo am 12.11.2016, als der ehemalige Vorsitzende der Piratenpartei, Meinhart Ramaswamy, von fünf Neo-Nazis vor seinem Haus bedroht wurde und meines Wissens vier Stunden auf einen Streifenwagen warten musste.
Ich war zu dieser Zeit im Urlaub. Aber nach meinem Kenntnisstand hat es nicht vier Stunden gedauert, bis die Kolleginnen und Kollegen vor Ort waren. Allerdings gab es Probleme in der Lagebeurteilung, weil Kräfte zu früh entlassen wurden. Das tut auch dem Einsatzleiter im Nachhinein leid. Doch zu diesem Zeitpunkt war nicht zu erkennen, dass die rechte Szene plötzlich umdreht und zurück nach Göttingen kommt, weil sie das bisher noch nie gemacht hat. Daraus haben wir gelernt. Es ist keineswegs so, dass wir auf dem rechten Auge blind sind.
Die fünf Neo-Nazis, die am 12.11.2016 Herrn Ramaswamy bedroht haben, verprügelten meines Wissens später auch noch eine 25-jährige Frau und einen 34-jährigen Mann aus er linken Szene als schon längst Polizeibeamten zugegen waren. Wie ist denn das passiert?
Über detaillierte polizeiliche Maßnahmen kann ich an dieser Stelle keine Angaben machen, zumal es sich zum Teil noch um laufende Ermittlungsverfahren handelt.
Bei der offiziellen Einführung der BFE am 30.11.2012 sagten Sie Folgendes: „Oft ist es aber auch allein die Anwesenheit einer BFE, die geplante Störaktionen bei Veranstaltungen verhindert.“ Gehört es zu den Aufgaben der BFE durch ihr martialisches Auftreten und ihre Ausrüstung – die sicherlich auch sinnvoll ist, um sich gegen Auberginen und Schlimmeres zu schützen – Angst zu verbreiten?
Nein, definitiv nicht. Wir arbeiten nicht mit Angst, sondern zeigen ganz offen, was für Einsatzmittel wir haben – das gehört für mich zur Transparenz dazu. Bei vielen Versammlungen setzen die Kolleginnen und Kollegen die Helme erst auf, wenn es brenzlig wird, wie zum Beispiel beim letzten Einsatz, den ich vor meinem Urlaub im September auf dem Bahnhofsvorplatz mitgemacht habe, als Demonstranten mit Steinen werfen wollten. Dort wurde über die Lautsprecheranlage deutlich gemacht, warum die Kolleginnen und Kollegen jetzt die Helme aufsetzen – auch um friedlichen Demonstrationsteilnehmern die Möglichkeit zu geben, weiter weg zu gehen. In bestimmten Momenten kann man eben einfach nicht mehr mit Bitte und Danke arbeiten und muss Straftäter festnehmen. Hierbei arbeiten wir aber mit größtmöglicher Transparenz, und als sich nach ca. einer Stunde auf dem Bahnhofsvorplatz alles beruhigt hatte, wurden die Helme auch wieder abgesetzt.
Das ist gut. Doch wenn die BFE-Zugehörigen ihre Helme auf dem Kopf haben, dann sind sie quasi vermummt. Ein Grund, warum 98 Prozent der Anzeigen wegen Polizeigewalt keinen Erfolg haben: Der Täter kann nicht ermittelt werden. Das ist nicht nur für die Opfer von Polizeigewalt hochgradig belastend, sondern untergräbt darüber hinaus das Vertrauen in eine rechtsstaatlich handelnde Polizei. Deshalb wurde wohl auch im Koalitionsvertrag die Kennzeichnungspflicht von Polizeibeamten beschlossen. Warum ist diesbezüglich in Niedersachsen noch nichts passiert?
Weil die Kennzeichnungspflicht von der Landesregierung auf den Weg gebracht werden muss, aber es im Bereich der Personalräte und Gewerkschaften keine Zustimmung dafür gibt. Jeder Kollege – auch von der BFE – hat aber schon jetzt hinten auf dem Rücken eine Nummer, mit der man zwar nicht jeden einzelnen identifizieren, aber den Personenkreis auf vier Einsatzkräfte eingrenzen kann.
Das ist doch komisch. Wenn die BFE-Beamten schon eine Nummer haben, warum haben sie dann keine eindeutige?
Das ist gerade ein Politikum, über das sich die Landesregierung nicht einig wird.
Nehmen wir mal an, ein BFE-Beamter hat über die Strenge geschlagen, ich habe ihn von hinten gesehen und mir seine Nummer gemerkt. Dann erstatte ich Anzeige und es kommen vier Leute als Täter in Frage, die nicht nur zusammenarbeiten, sondern auch aufeinander angewiesen sind und sich gegenseitig natürlich nicht verraten wollen. Wie groß ist denn in diesem Konglomerat die Wahrscheinlichkeit, dass sich wirklich jemand verantworten muss?
Diesen berühmten Korpsgeist, den gab es vielleicht mal, aber wir haben heute studierte Polizeibeamtinnen und -beamte in unseren Reihen. Ich kann mich natürlich nicht für 15.000 Polizeibeamte verbürgen, aber ein ganz großer Teil setzt sich für Recht und Gesetz ein. Außerdem gibt es einen Gruppenführer, der genau weiß, wo wer steht, und die entsprechende Person auf Video garantiert identifizieren kann, damit der Kollege zur Rechenschaft gezogen werden kann. Allerdings sind die Anzeigen, die gegen unsere Beamtinnen und Beamte eingegangen sind, von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden. Wenn man jetzt nun aber auch der Ansicht ist, dass die Staatsanwaltschaft mit der Polizei unter einer Decke steckt, dann ist man quasi mit unserem gesamten Staatssystem nicht zufrieden. Ich glaube aber, dass es das beste ist, das es gibt.
Trotzdem könnte man das System durchaus noch verbessern und die Identifizierung von Polizeibeamten erleichtern. Dass sich die Landesregierung und die Interessenvertreter der Polizei so dagegen wehren, erscheint mir ziemlich ominös.
Dennoch kann man in einem solchen Fall eine Anzeige gegen Unbekannt erstatten, woraufhin wir dann ermitteln. Und nicht nur wir filmen auf Demonstrationen, sondern es wird auch ganz viel über youtube verbreitet. Als die Landtagsvizepräsidentin Gabriele Andretta im Mai letzten Jahres auf einer Demonstration in Göttingen mit Pfefferspray verletzt wurde, haben wir ganz viel Videomaterial im Internet gefunden – wesentlich mehr und wesentlich besseres Material als das, was unsere Kamerateams aufgenommen hatten.
Ich stelle mir das sehr unangenehm vor, wenn man gegen seine eigenen Kolleginnen und Kollegen ermitteln muss …
Wenn gegen einen Beamten der Bereitschaftspolizei eine Anzeige besteht, dann ermittelt ja nicht die Bereitschaftspolizei, sondern Kollegen hier aus Göttingen. Weil es in der Vergangenheit Vorwürfe gab, dass Videomaterial manipuliert worden sei, wird das Videomaterial, seitdem ich im Amt bin, sofort hier bei uns abgegeben und nicht mehr mit nach Hannover genommen oder dahin, woher die Einsatzkräfte kamen. Und natürlich schauen sich Kolleginnen und Kollegen, die nicht am Einsatz beteiligt waren, das Videomaterial an. Wenn wir erkennen, dass Beamte aus Göttingen an Straftaten beteiligt sind, dann ermitteln auch nicht die hiesigen Kollegen, sondern die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer anderen Inspektion, die sich untereinander nicht kennen. Ich glaube, wir haben da schon ganz viel verbessert, und ich rufe jeden auf, mir zu sagen, dass er eine Anzeige erstattet hat, die dann nicht weiter verfolgt worden ist. Dem gehe ich nach, weil ich hundertprozentig dafür einstehe, dass wir nach Recht und Gesetz handeln.
Die Polizei hat das Gewaltmonopol inne und jeder Polizist muss im Ernstfall in der Lage sein, Gewalt anzuwenden, weil ansonsten das ganze System nicht funktionieren würde. Wie schafft man es, Polizisten während ihrer Ausbildung gewaltfähig zu machen und gleichzeitig sicherzustellen, dass sie nicht darauf stehen, gewalttätig sein zu dürfen?
Das beginnt schon mit dem psychologischen Eignungstest, wo intensiv geguckt wird, welche Einstellungen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben. Allerdings werden jedes Jahr für das Land Niedersachsen rund 800 bis 900 Beamte eingestellt, und man kann natürlich nicht jedem hinter die Stirn gucken. Aber wenn wir erkennen, dass jemand zur Polizei will, der Lust hat, Gewalt anzuwenden, dann wird diese Person nicht genommen. Die anderen durchlaufen ein dreijähriges Studium, in dem wir unter anderem genau diese Themen bearbeiten. Bereitschaftspolizisten machen zudem sehr viele Übungen, in denen sie auf gewalttätige Demonstranten vorbereitet werden – und zwar nicht, indem sie selbst Gewalt ausüben, sondern indem sie lernen, mit Gewalt umgehen zu können. Die BFE ist beispielsweise auch bei Fußballspielen im Einsatz, und wenn es um Hooligans geht, dann wird auch schon mal Leuchtspurmunition auf Polizeibeamte abgeschossen und Bengalos, die über 1000 Grad heiß sind, auf Polizeibeamte geworfen. In solchen Situationen braucht jeder Polizeibeamter trotz der Hitze um ihn herum einen kühlen Kopf. Das wird geschult, trainiert und – wenn nötig – psychologisch betreut.
Welche Einsätze mögen die BFE-ler lieber: Demonstrationen gegen Neo-Nazis oder Fußballspiele mit Hooligans?
Sie werden es mir wahrscheinlich nicht glauben, aber am liebsten würde die BFE nach vermissten Personen suchen oder eben solche Einsätze wie am 09.02. im Bereich des Terrorismus durchführen, aber sie können es sich eben nicht aussuchen, denn ihr Beruf ist es, sich für die Menschenrechte einzusetzen. Deshalb fahren sie auch fünf, sechs oder sieben Mal im Jahr nach Göttingen, um eine rechte Kundgebung zu ermöglichen. In diesem Fall würden sie gerne was anderes machen, das kann ich Ihnen ganz deutlich sagen! Aber sie müssen eben auch einer rechten Gruppierung, die nicht verboten ist, ihre Meinungs- und Versammlungsfreiheit ermöglichen. Das bedeutet nicht, dass die Kolleginnen und Kollegen hinter dieser Meinung stehen.
Das beruhigt mich, denn mancherorts herrscht schon fast der Eindruck, dass die Göttinger Polizei mit den Rechten sympathisieren würde – was ich mir ja eigentlich gar nicht vorstellen kann.
Dazu sage ich definitiv Nein. Wenn wir das erkennen würden, dann würden wir gegen diese Polizeibeamten vorgehen. Diesbezüglich gibt es in meiner Behörde null Toleranz. Wer rechtes Gedankengut in sich trägt und rechten Gruppierungen nahesteht, der kann kein Polizeibeamter sein.
PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 4. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im Februar 2017.
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