Zum Abgewöhnen

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Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und eins steht fest: Die gute Gewohnheit ist stets die schlechte, die Du unterlässt. 

[Text: Vanessa Pegel | Illustration: Fräulein Freud]

Manche Menschen kauen an ihren Fingernägeln, als wären sie ein Knabbergebäck, oder scheinen noch nie davon gehört zu haben, dass man eine Zahnpastatube nicht nur auf- sondern auch zuschrauben kann. Andere palavern – wie die Autorin dieser Zeilen – schon seit Jahren darüber, endgültig mit dem Rauchen aufzuhören, bevor sie sich im nächsten Moment eine anstecken, während sie davon fantasieren, endlich ihr Zeitmanagement zu revolutionieren. Mehr Menschen als man meint, sind schon seit längerer Zeit in einer Liebesbeziehung mit jemandem, den sie nicht mehr begehren, aber schaffen es nicht darüber zu reden. Viele sitzen sich den ganzen Tag am Schreibtisch den Rücken krumm und faseln von mehr Bewegung, doch landen nach Feierabend stets schnurstracks mit einem Bierchen vor der Glotze auf dem Sofa. Und dann sind da noch welche, die ständig davon schwafeln, wie schrecklich diese Massentierhaltung doch sei, aber wenn es um die Wurst geht, trotzdem zum Billigfleisch greifen. Warum machen wir Menschen das, und wieso können wir es nicht einfach lassen?

Die Macht der Gewohnheit 

Vielen von diesen ungern gesehenen oder sich ungut anfühlenden Verhaltensweisen geben wir uns hin, ohne sie zu hinterfragen. Unsere Aufmerksamkeit ist nicht im Hier und Jetzt, sondern in Gedanken mit „wichtigeren“ Themen beschäftigt. Weil das Denken viel Energie erfordert, ist unser Gehirn darauf aus, so viele Tätigkeiten wie möglich zu automatisieren, ohne dafür das Bewusstsein zu aktivieren. Und das ist eigentlich auch gut so, denn unser Leben ist überaus komplex und verlangt uns tagtäglich unzählige Entscheidungen ab. Wenn wir beispielsweise jeden Morgen nach dem Aufstehen auf ein Neues bewusst abwägen würden, was wir als Erstes und was als Letztes tun, bevor wir aus dem Haus gehen – Zähne putzen, Kaffee kochen, duschen, Zeitung lesen, Haare kämmen, sich rasieren, aufs Klo gehen oder doch lieber noch ein bisschen im Bett bleiben? – dann wären wir abends wahrscheinlich immer noch im Schlafanzug. Deshalb haben wir für solche und viele andere Fälle ein Routineprogramm parat: die Macht der Gewohnheit, die in unserem Unterbewusstsein wohnt und uns im Alltag oftmals einen guten Dienst erweist. 

Als Gewohnheit bezeichnet man eine bestimmte wiederkehrende Verhaltensweise, die bei gleichartigen Situationsbedingungen, ohne dass wir überlegen müssen, nach demselben Reaktionsschema abläuft. Jeder Mensch folgt einem solchen System von verinnerlichten Verhaltensweisen, das es ihm ermöglicht, auf viele Situationen im Leben schnell zu reagieren. „Wir leben in einer unsicheren Welt und können nicht alles im Voraus wissen. Aus diesem Grund gehen wir oft von Gewohnheiten aus, d.h. wir verhalten uns in einer Art und Weise, wie es früher schon mal erfolgreich war. Dazu gehören Dinge, die eher individuelle Gewohnheiten sind, z. B. was man isst, dazu gehören aber auch soziale Konventionen wie Höflichkeit“, erläutert der Psychologe Prof. Gerd Gigerenzer in seinem Buch Bauchentscheidungen – Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Derartige Automatismen sind wie eine Universalgrammatik des Verhaltens. Sie entlasten uns vor einem übermäßigem alltäglichen Entscheidungsdruck, sparen Zeit und Energie, bringen aber oftmals auch Ärger mit sich, z. B. wenn in unserem Routineprogramm das Zudrehen einer Zahnpastatube nicht inbegriffen ist, aber dies von unserer „besseren Hälfte“ unbedingt gefordert wird.

Ein guter Rat zur besseren Tat

Das Beispiel von eben mag trivial klingen, trifft allerdings des Pudels Kern der Gewohnheit und hat, zumindest bevor die meisten Zahnpastadeckel noch nicht an der Tube befestigt waren, zwischen Liebesgefährt*innen des Öfteren zu mieser Stimmung geführt. So nützlich unsere Universalgrammatik des Verhaltens im alltäglichen Leben auch sein mag, spätestens wenn sie uns selbst oder anderen zu sehr auf den Geist geht, möchten wir uns liebend gerne von ihren Automatismen verabschieden. Doch oftmals schaffen wir es einfach nicht. Wie bei fast allem gilt auch hier: Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung, oder wie der griechische Philosoph Sokrates auszurufen pflegte: „Erkenne Dich selbst!“ Denn nur wenn uns klar wird, was wir da eigentlich tun und welche Vor- und Nachteile [Stichwort: Kotzen-Nutzen-Rechnung] uns die jeweilige Angewohnheit bringt, können wir sie in den Griff bekommen. Leider sind wir Menschen in dieser Disziplin nicht besonders gut. Meistens scheitern wir schon daran, uns selbst objektiv zu beobachten, weil unser Unbewusstes ständig damit beschäftigt ist, kognitive Resonanz zu reduzieren und unser Selbstbild in einem angenehmen Licht zu illuminieren. Oder wie ist es sonst zu erklären, dass ein Mensch, der seinen Gegenüber nie ausreden lässt, dennoch davon überzeugt ist, ein gutes Gespräch geführt zu haben? 

Auch wenn es mitunter wehtut: Um uns selbst zu erkennen, brauchen wir jemanden, der uns auf möglichst sensible Art und Weise vor Augen führt, wie wir uns in bestimmten Situationen verhalten. „Viele Menschen scheuen sich davor, jemandem zu sagen, dass dessen Gewohnheiten nicht unbedingt die besten sind“, stellt Gerd Gigerenzer fest. „Das ist es aber gerade, was wahre Freundschaft von mittelmäßiger unterscheidet. Ein wahrer Freund sagt: Mach das am besten das nächste Mal nicht. Ein wahrer Freund ist ein Kritiker.“ Dennoch sind wir oft eingeschnappt, wenn wir zu hören bekommen, dass unser Verhalten zu wünschen übrig lässt, anstatt die Kritik als das anzunehmen, was sie ist: ein guter Rat zur besseren Tat. 

Der Sieben-Punkte-Plan zum Abgewöhnen 

Will man unliebsame Angewohnheiten ablegen, benötigt man allerdings nicht nur die Einsicht, dass man welche hat, sondern auch noch eine gute Strategie, wie man sie wieder los wird, denn planlos geht kein Plan los. Deshalb hier ein paar Tipps und Tricks zum Abgewöhnen:

1. Selbstverpflichtung: Am Anfang eines jeden Veränderungsprozesses steht nach der Einsicht die Entscheidung. „Manche Menschen schließen mit sich selbst einen Vertrag und versprechen sich bei ihrer eigenen Würde, dass sie sich daran halten“, schreibt Gigerenzer. „Dabei ist es wichtig, dass man sein Vorhaben erst einmal zeitlich begrenzt. Nehmen wir beispielsweise jemanden, der sich immer wieder erst kurz vor Mitternacht todmüde vom Fernsehapparat trennt [und es am nächsten Morgen bitter bereut, Anmerkung der Redaktion]. Diese Person könnte mit sich selbst vertraglich festhalten, im nächsten Monat den Fernseher immer um 23 Uhr abzuschalten, und für den Fall, dass sie sich nicht daran hält, eine Strafe vereinbaren oder eben eine Belohnung, wenn es klappt.“

2. Belohnung: Tatsächlich kommen wir am besten ans Ziel, wenn wir dort ansetzen, wo wir es am liebsten haben: in unserem Belohnungszentrum. Alle einschlägigen Untersuchungen in der Hirnforschung haben gezeigt, dass Verhaltensänderungen am ehesten dann eintreten, wenn der Mensch einen offensichtlichen Vorteil durch die Veränderung hat, wobei dieser Vorteil allerdings auch im Vermeiden oder Beenden eines Nachteils bestehen kann. Des Weiteren zeigt die Motivationsforschung, dass der Mensch nur diejenigen Dinge regelmäßig tut, die er überwiegend mit guten Gefühlen verbindet. Möchte jemand sein Couch-Potato-Dasein beenden und mehr Sport treiben, wäre es also sinnvoll, sich eine Sportart aussuchen, die ihm Freude bereitet [ja, sowas gibt's, man muss sie nur finden!]. Dann wird das positive Gefühl, das er*sie dabei empfindet, im allerbesten Fall sogar selbst zur Belohnung, und daraus entsteht dann langsam aber sicher eine neue Gewohnheit, nämlich die, sich oft und gerne zu bewegen. 

3. Ersatzhandlung: Schon Erich Kästner pflegte zu sagen: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“. Damit dort, wo früher die schlechte Gewohnheit war, keine gähnende Lücke klafft, empfiehlt es sich, selbige durch eine andere, gute Gewohnheit zu ersetzen, um so den zweifelhaften Nutzen, den die schlechte gebracht hat, auf andere Weise zu generieren. Beispielsweise könnte ein Mensch, der sich nicht aus seiner unbefriedigenden Beziehung lösen kann, weil er*sie Angst davor hat, sich einsam zu fühlen, damit anfangen, alte vernachlässigte Freundschaften wieder aufleben zu lassen.

4. Visualisierung: Je konkreter man das Ziel formuliert und je besser man es sich plastisch vor Augen führt, desto leichter ist es, nicht von seinen hehren Zielen abzukommen. Deshalb empfiehlt es sich, in seinem Selbstvertrag [siehe Punkt 1] möglichst schriftlich festzuhalten, wie schön das Leben ohne diesen Leid bringenden Automatismus wäre. Fingernägelkauer sollten sich also ihre Zukunft mit gepflegten Händen in den schillerndsten Farben ausmalen. Niemand wird mehr auf Anhieb erkennen, dass sie von einem nervösen Gemüt geplagt werden!

5. Veränderungsverstärker: Sofern es sich bei der schlechten Angewohnheit nicht um ein intimes Geheimnis handelt, ist es hilfreich, möglichst vielen Menschen vom Veränderungsvorhaben zu erzählen. Das erhöht die Verbindlichkeit, denn man will sich schließlich nicht blamieren! 

6. Die 30-Tage-Regel: Damit man sich bei dem Versuch, nach den Sternen zu greifen, nicht den Hals verrenkt, empfiehlt es sich, behutsam vorzugehen. Dabei kann es hilfreich sein, sich vorerst nur für einen Zeitraum von 30 Tagen vorzunehmen, eine Verhaltensweise zu verändern, und dann zu überprüfen, wie es sich anfühlt. Denn Gewohnheitsänderungen, die auf die Ewigkeit angelegt sind [ab jetzt gucke ich nie wieder fernsehen!], können entmutigend wirken. Außerdem gehen Experten davon aus, dass 30 Tage schon ausreichend sein können, um eine neue Gewohnheit im Gehirn zu verankern. 

7. Eine nach der anderen: Ebenfalls ratsam ist es, sich nicht mehrere schlechte Angewohnheiten auf einmal vorzuknöpfen, weil dann die Gefahr zu groß ist, dass man nicht genug Energie hat, alles zu erreichen, und deshalb ganz aufgibt. 

Tschüsschen mit Küsschen!

„Man kann lernen, sich selbst zu kontrollieren, sodass man am Ende glücklicher ist mit dem, wie man lebt“, ermutigt der Psychologe Gerd Gigerenzer. Fragt man ihn nach seinen eigenen schlechten Angewohnheiten, antwortet er: „Wo soll ich da anfangen? Beispielsweise habe ich in meinem Beruf sehr viel zu tun und gebe zu viele Interviews. Jetzt gleich werde ich zu einem Vortrag zu spät kommen, weil ich mich von Ihnen nicht lösen kann.“ Wie man sieht haben einige „schlechte“ Angewohnheiten durchaus ihren Charme. Wenn man sie alle aufgeben würde, dann wäre man wahrscheinlich jemand anderes und nicht mehr man selbst. 

Also denk Dir Deine Welt, wie sie Dir gefällt, schmeiß nach und nach alles raus, was da nicht reingehört, und bau Dir ein Haus, in dem Du gerne wohnst, doch nimm Dir dabei die Worte von Mark Twain zur Brust: „Eine Angewohnheit kann man nicht aus dem Fenster werfen. Man muss sie die Treppe hinunterboxen, Stufe für Stufe.“

 

PS: Dieser Artikel erschien darüber hinaus in der 33. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins.

 

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