Daseinssekpsis und Pfefferspray

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Blut mag dicker als Wasser sein, doch es gerinnt auch oftmals zu dicker Luft. So kam es, dass unser Kolumnist Herr Dunkel wie Rilkes Panther um den Weihnachtsbaum tigerte: mit großem Willen, aber wie betäubt.

[Text: Herr Dunkel | Illustration: Niclas Kersting]

Über die Festtage hat uns mein Vater besucht. Eine Woche. Er ist Mitte Siebzig, ehemaliger Kapitän zur See. Hat er ehedem die Welt bereist, die er uns stets mit bunten Worten, Bildern und Filmaufnahmen schilderte, wenn er heimkehrte, weltgewandt und kosmopolit, in einer Zeit, in der der Globus und so vieles mehr noch unzählige unbekannte Flecken hatte, regieren ihn heute eher kleinbürgerliche Ängste, die er seinen Mitmenschen mahnend, zuweilen verpackt als etwas skurrile Lebensratgeber, ungefragt heranträgt. Zumeist geschieht dies hanseatisch-spröde, nicht selten etwas zynisch oder auch nur lakonisch und manchmal, ja manchmal auch nicht ganz frei von einem Ressentiment, das zu Konflikten einlädt, die aber schnell verebben, weil es nicht fundiert ist. Ja und weil er am Ende ohnehin nur sticheln will, um sich zu spüren oder mich, weil er weiß, dass es mich nervt und es mich rasend macht, wenn er nachsetzt, dass ich immer so empfindlich sei, dass man bei mir ja gar nichts sagen könne! Doch immerhin, auch wenn eine solche Argumentation schwer nach wutbürgerlicher Opferstilisierung klingt, damit hat mein alter Herr nun wahrlich nichts zu tun, dazu ist er einfach zu viel rumgekommen. Eines ist bei seinen Besuchen aber immer gleich. Nach einigen Tagen wird die Luft unaufhörlich dicker, man kann sie nur noch schwer atmen; ich fühle mich gefangen wie ein Raubtier, wie Rilkes Panther, hinter jenen eisernen Stäben und in der Vorstellung gebändigt, dass dich Herkunft nie freigibt. Neben unserem Langzeitgast bekamen wir über die Tage des endenden letzten Jahres weiteren Besuch, noch mehr Familie an den Festtagen, Freunde zwischen den Jahren. Ihnen allen legte mein Vater nach einer Weile des bloßen schweigenden Dabeiseins die knisternden Platten seiner kultivierten Daseinsskepsis auf und verband sie alle, obwohl sie einander nicht begegnet waren, mit seinen Erleuchtungen: dass man sich in Bremerhaven, wo er herkomme, angesichts der Kriminalität nicht mehr auf die Straße trauen könne, dass sie einem für wenig die Autoscheiben aufschmissen, dass auch wir, weit weg von Bremerhaven, Schlösser an den Fenstern bräuchten, wir würden schon sehen, dass er ohne Pfefferspray ja gar nicht mehr rausgehe, er habe es dabei, schaut mal, dass er es bei sich daheim nicht so schrecklich warm habe wie wir, 14 Grad reichten da völlig, er habe ja auch eine kuschelige Lamadecke und zudem eine Rückzahlung von der Stadt erhalten, warum wir keine CO2-Melder hätten, und wie alt unsere Winterreifen seien, er frage nur wegen der Kinder, wenigstens für die Kinder! Er schildert seine morgendlichen Essgewohnheiten, die er freilich auch in unseren Alltag installiert, nach und nach, Stück für Stück holt er alles dafür Nötige aus dem Kühlschrank und okkupiert damit eine ganze Tischhälfte. Überhaupt stülpt sich seine Lebensweise wie eine Wurstpelle luftdicht über die unsrige, wallt über sie in der Betulichkeit einer japanischen Teezeremonie, langsam und unaufhaltsam wie Lava. Manchmal lacht er, wenn er uns all das vor die Füße gießt, er schmunzelt und wir lachen mit, denn es kratzt an der Demarkationslinie hin zur Selbstironie, ohne sie wirklich jemals zu überqueren. Dazu ist es zu sehr gelebt. Eine Kunst. Seine Kunst. Besonders für Außenstehende ist es nicht frei von Komik und Humor. Außer mir finden es zumeist alle sehr amüsant. Lass ihn doch! Habe ich eine Wahl? Einmal, als er uns gerade sein Bewegungstraining dargelegt hatte, das er selbstredend jeden Morgen vollzöge, Kniebeugen, 50 Stück, „Petersilie hacken“, „Pinguin“, „Schnittlauch ... und so dann mit den Armen“, für den Muskelaufbau, oder nein, bei ihm ist es gegen den Abbau, gegen den sich jeder wappnen sollte, ja muss ... schlug ich ihm auf jeden Fall vor, ihm einen youtube-Kanal einzurichten. Auf diese Weise, so frotzelte ich ihm über ein Weinglas zu, könne er seinen Missionierungswillen zu Geld machen und verdammt, das würde er, doch das, nein DAS wolle er nun bitte wirklich nicht! Da mischte sich etwas beinahe Flehendes in seine Stimme, nein, mit diesem Facebook und so, das wolle er nicht. Zu viel des Bösen lauert vor allem ja auch in dieser Welt. Gegen den Stubenkoller unseres gedämpften Alltagslebens richteten wir entgegen sonstiger Gewohnheit ausgedehnte Spaziergänge. Im naheliegenden Wald, durch den wir gingen, joggten sich die Menschen die Festtagspfunde aus dem Leib und forderten unbeabsichtigt meinen Vater zur Agitation heraus. Er ahmte ihre Bewegungen nach, verzog das Gesicht zu einer angestrengten Grimasse und höhnte zu den Kindern „und er wird doch kein Weltmeister!“. Auch ich verzog mein Gesicht. „Kann ich das nicht sagen? Stimmt doch, DAS kann man doch wohl sagen, ein Weltmeister wird er ja doch wohl nicht werden, oder?!“ Gewiss nicht, nein. Schnell schnappte er sich die Kinder, spaßte mit ihnen, „ein Weltmeister wird der nicht, hi, hi!“, meine Frau schmunzelte – so schnell steht man allein. 

Doch oben auf dem Berg, alles war noch weich und patschig vom weihnachtlichen Dauerregen und er wollte halt partout den leeren Buggy schieben, damit er mehr Halt habe, gib mal her, da hat er sich dann langgemacht – richtig lang und schön rein. Erst tänzelte er hilflos auf dem glitschigen Unterboden, trippel, trippel, dann riss er den Wagen nach vorn, und mit ausgestreckten Armen und Händen, die noch immer an den Griffen klammerten, rollte er sich erbärmlich in den Matsch. Zunächst erstarrten wir. Doch als er unversehrt fluchend aufstand [„Menschenskinner, nee, Schiete, Schiete, so eine Sauerei!!“], da lachten erst die Kinder und dann wir alle, sogar er selbst, wenn auch erbost. Ich dachte und ja, ich sagte es auch, dass wenn man zuvor noch seine Mitmenschen derart schmähte und sie mit Häme überzogen habe, es nicht einer gewissen Komik entbehre, wenn man sich kurz darauf mit der Nase im Schlamm wiederfände – kleine Sünden und Gott und so. Dass Gott auch uns und unseren Hohn und Spott nicht vergessen hatte, davon konnten wir uns dann einen Tag vor der Silvesterfeier überzeugen, zu der wir aufbrechen wollten, als uns ein Magen-Darm-Infekt zu einem unerwarteten Verzicht verdonnerte. Mein Vater indes hat wohl eine ganz gute Sause verlebt, wo er feierte. Nun, es sei ihm gegönnt. 

Vielleicht heißt es ja, Blut sei dicker als Wasser, weil Familie zuweilen so zähflüssig sein kann, weil Familie einen festklebt, dort, wo man herkommt, mit Weihnachten wenigstens einmal im Jahr, zumeist jedenfalls. Du kannst lachen, verzweifeln, schimpfen, dich echauvieren, aber du kannst dich nicht davon freimachen, denn es steckt in dir. Und wenn es wieder einmal so richtig klebrig war zur schönsten Zeit im Jahr, bleiben ja noch die guten Vorsätze. Ein frohes neues Jahr!

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 9. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im Januar 2018.

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