Das Bullerbüsyndrom

#DunkelDuscht #Seelenleben #LebenLernen

Obwohl sich unser Kolumnist Herr Dunkel etwas Grippales eingefangen hat, setzte er sich barfuß im Herzen an seinen Schreibtisch und schrieb uns im Fieberwahn ein Plädoyer für den Betriebsmodus des Staunens.

[Text: Herr Dunkel | Illustration: Lea Garleff]

Auf Bildern unserer Erde, auf denen der Blick unseren Heimatplaneten seitlich streift, als zögen wir selbst als kreisender Trabant unsere Bahnen, sieht man unsere Atmosphäre als bemerkenswert fein schimmernde Schicht - hauchdünn und man kann es kaum fassen, was für ein aberwitziges Wunder unser blauer Planet inmitten der kargen Unendlichkeit ist und welch ein Geschenk das Leben, dessen Ursprung im apokalyptischen Inferno des Hadaikums man wohl eher auf eine kosmologische Sektlaune zurückführen muss.

Jan Skácel, der tschechische Naturpoet, wurde im Göttinger Wallstein-Verlag jüngst als Sammelband neu herausgegeben. Dieser, also der Sammelband, trägt als Titel eine Zeile aus Skácels lyrischem Werk und sie liest sich, so aus ihrem Kontext herausgelöst und auf den Buchrücken gefasst, wie ein Versprechen und zugleich als  Wunsch, man möge, wenn man dieses kostbare Gut empfange, sich als behutsam genug, empfindsam und im Einklang mit diesem Werk befinden, weil es fragil und angreifbar ist und „für alle die im Herzen barfuß sind“. Dieser Titel hat bei mir sofort verfangen. So einfach und klar - Herz, barfuß - und kein Komma vor dem Relativpronomen, das auch nur eine Ahnung von Sandalenriemchen um die zarten Unterläufe hätte spannen können. Wie schön muss es sein, im Herzen barfuß zu sein?! Und liebe Germanisten, verzeiht mir, dass ich dieses kurze Fragment erhebe aus der Fundstelle des Ganzen und mir erlaube, abseits der bittenden Frösche Skácels Ursprungsgedicht und herausgelöst aus dem Bedeutungszusammenhang der tschechischen Sprachheimat, aus der es entlehnt wurde, es für mich ganz neu zu erblicken. Ein Fuß so bar und als poetisches Bild gefasst ist für mich nichts, was man gerötet, schwielig und schwitzend nach einem Hochsommertag aus einem Lederstiefel zieht oder aus der Verschnürung hochhackiger Stilettos freischneidet und lebendig reibt. Es sind vielmehr diese zartblassen Füßchen, die über taubenetzte Wiesen tippeln, wenn Mädchen in ihren luftigen weißen Kleidern zur Sommersonnenwende um die midsommarstång tanzen. Frei und unschuldig, gackernd und ausgelassen, mit Blumen im wehenden Haar, ein schwedisches Naturidyll, weichgezeichnet irgendwo im Ländlichen, unter freiem Himmel, ohne Wallander, wortkarge Trinker und verdrängte Familiendramen – Menschsein, wie es sein soll, Astrid Lindgren lässt grüßen! 

Dass man in Gedanken und barfuß im Herzen so selbstverständlich in Bullerbü landet, und zwar anstrengungsfrei, kommt nicht von ungefähr und häufiger vor, als man denkt, sodass es im Schwedischen einen eigenen Begriff für dieses Phänomen gibt und zwar tatsächlich das „bullerbysyndromet“! Von diesem Syndrom sind nach Einschätzungen Berthold Frankes, einst Direktor des Stockholmer Goethe-Instituts, vor allem wir Deutschen befallen. In einem vielbeachteten Essay, das im Jahre 2007 im Svenska Dagbladet veröffentlicht wurde, kommt Franke als kundiger Kenner beider Kulturen zu dem Schluss, dass jene klischeehafte Form der Schwedenliebe, wie sie noch heute in hochverdichteter Form etwa in den Trivialfilmen Inga Lindströms medialen Ausdruck findet - dargeboten im deutschen TV zur Primetime, mit roten Holzhäusern, tiefen Wäldern, glücklichen Menschen, blond, naturverbunden und ein Boot vertäut am Steg – bei uns weit verbreitet, aber im Grunde genommen auch gar keine echte Liebe ist, sondern vielmehr die Projektion eines Sehnens der Deutschen nach einem besseren Deutschland: nach einer besseren Gesellschaft, nach einer schöneren Natur, nach dem besseren und schöneren Menschen, der sie gerne selbst wären. Und genau das ist wohl auch der Grund, warum das poetische Bild Skácels so viel Kraft hat, es bedient diese Sehnsucht. Wer im Herzen barfuß ist, wer sich selbst in seiner Zartheit und Verwundbarkeit zeigt und gibt, dabei unbestechlich wie ein Kind, ehrlich, schamlos, berauscht, der sieht die Dinge, wie sie sind, der staunt, tut kund und klagt an, denn auch Fassungslosigkeit ist ein Betriebsmodus des Staunens. Das kindliche poetische Gemüt, um es frei nach E.T.A. Hoffmann zu folgern, erblickt die Dinge in ihrer reinen Beschaffenheit, es fühlt tief und fordert kompromisslos – hier spürt man die Erhabenheit des Unverfälschten.

Vom poetischen Bild hin zu den weltweiten Freitagsdemonstrationen scheint der Weg nicht weit und daher hoffentlich nicht allzu konstruiert, nur könnten wir heute eben nicht weiter weg von Bullerbü sein. Keine Blumenwiese, kein Morgentau, keine Lieder, kein Kinderlachen, die zarten Füße verschmutzt, übersät mit blutigen Schnitten und angestoßenen Stellen – mithin erscheint das Leben zu rau, zu steinig und mit zu vielen trampelnden schwer besohlten Schnürschuhen darin, um ihm barfuß zu begegnen. Die Kinder. Eben rochen sie noch nach Penatencrème, jetzt stehen sie mit Transparenten im Nieselregen. Sie blicken in eine Welt der Naturkatastrophen, Kriege, Ausbeutung, Krankheiten, Hunger und Armut und gewiss, der Mensch hat auf seinem Weg in die Gegenwart viele existentialistische Fragestellungen zu seinen Gunsten klären können, doch das zerstörerische Potential der Klimaveränderungen dürfte beispiellos sein und das, was die junge Generation umtreibt, ist nicht die Frage, wie man den Phänomenen Herr wird, vielleicht noch nicht einmal, wie es dazu kommen konnte, sondern schlicht die, warum jetzt nichts passiert. Was ist jetzt? Erwachsene, ihr Großen und Bestimmer? Die Galionsfigur jener, die im Herzen barfuß sind und Schwedin noch dazu, Greta Thunberg, ist in dieser Sache in ihren Erwartungen ganz klar. Sie will, dass die Entscheidungsträger handeln. Jetzt und nicht irgendwann. Keiner braucht sich zu erklären, sie will kein Mitgefühl – und gewiss müssen wir um dieses Mädchen keinen Heiligenkult entfachen, doch diese Klimaaktivistin mit Asperger, wie sie sich auf ihrem Twitteraccount selbst betitelt, ist das Mädchen, das aus dem Ringelreigen des beschriebenen Naturidylls, aus der Unschuld dieses Kindheitsbildes stets mit diesem leicht verkniffenen Blick herausschaut, uns anschaut, Dich anschaut und uns wissen lässt: Ich will Eure Bonbons nicht, aber ich bleibe, in diesem Bild und ich bin noch morgen da, und auch übermorgen und danach auch, Ihr werdet sehen.

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 16. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im März 2019.

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