Über die Infantilisierung der Gesellschaft

#DunkelDuscht #Seelenleben #Weihnachten #LebenLernen

Eingekesselt zwischen Weihnachtsschmaus und Tannenbaum stellte unser Kolumnist Herr Dunkel fest, dass sogar sein über 70-jähriger Vater offenkundige Defizite im Erwachsensein aufweist. So kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob es sich dabei um eine kollektive Disposition handeln könnte. 

[Text: Herr Dunkel I Illustrationen: Sarah Elena Kirchmaier]

Als ich am Heiligabend der Familie meinen warmen Speckkartoffelsalat kredenzte, erreichte mich so nebenbei von einem alten Freund eine Bildnachricht. Abgebildet Klaus Kinski, darunter der Spruch: „Wenn mir nach Romantik ist, mach ich mir ein Teelicht an –  beim Kacken!“ Was soll ich sagen, ich fand’s super. Die erste Weiterleitung an Kollege Benner. Er zurück: „Du sprichst mir aus der Seele. Ich liebe dich. Frohe Weihnachten!“ Dann noch einmal an meinen Vater, er saß mir an der Tafel gegenüber und schaute mich so neugierig an; sollte er doch! Ich sah, wie er die Nachricht aufnahm, kurzes Mitmurmeln, dann mittellaut und eher fragend „beim Kacken“? Gequältes Lachen, das sich angesichts seines Empfindens, mit dieser Entdeckung allein zu sein, entwickelte. Später, als sich unsere Blicke streiften, dann ein ertapptes Nicken. Am nächsten Tag schickte er die Bildnachricht an seine Schwester. 

„Wirklich?“ 
„Gewiss!“ 
„Nein!?“ 
„Warum denn nicht, ich wollte mal wissen, wie sie es auffasst!“ 
„Du musst es ja wissen.“
„Ist doch lustig, oder?“

Aber die pensionierte Grundschullehrerin fand es nicht lustig, vielmehr „primitiv“, wie sie ihm in spröden Worten mitteilte. Er gab sich beim Vortrag entspannt, doch es arbeitete in ihm. Mächtig. Zum Wein am Abend gab es in kleiner Runde noch eine Weihnachtshumoreske. Kann man machen, ich lachte ein paar Mal ausgelassen – man ist über die Festtage ja so gelöst. Mein Vater indes gab sich etwas zugeknöpft. So lustig sei er ja auch nicht, „der olle Film“. „Oho, verstehe!“ rief ich in gespielter Empörung aus, „nun, für die einen ist es lustig, für die anderen dann eher so primitiv!“ Wir lachten. Er nicht. In verstimmten bis wahnsinnigen Tiraden trat er an diesem Abend, der gewissermaßen etwas jäh endete, schließlich ab. Ich nahm mir fest vor, ihn am Morgen zu stellen und das tat ich dann auch. Er war vergrätzt, doch so richtig wollte er nicht raus damit. Er wusste, dass seine Vorwürfe irrational waren. Am Ende trafen sie uns aber doch noch – ungelenk, wie Salven aus dem zerborstenen Lauf einer verwitterten Schrotbüchse. Schadenfroh seien wir gewesen, ergötzten uns an seinem Ungemach – nur wo war denn unser Spott und wo sein Schaden? Klaus Kinski, den habe er ohnehin noch nie leiden können, weil der nicht recht sauber in der Murmel gewesen sei, und wie kämen wir überhaupt dazu, ihm dergleichen unverlangt zuzuschicken? Das verböte er sich für die Zukunft, so viel Unfrieden gedeihe auf dem modernden Morast digitaler Unkultur, er müsse das nun alles wieder hinbiegen; und wenn man ihn an dieser Stelle so ungebremst hätte weiter wüten lassen, dann hätte er sich doch tatsächlich noch erfolgreich eingeredet, dass er mit dem Ganzen nichts zu tun gehabt, oder mehr noch, dass es sich niemals so zugetragen habe. Ob er mich nun dafür verantwortlich mache? 

„Aber ja!“ 
„Nicht im Ernst!?“ 
„Doch!“, denn wenn ich ihm das gar nicht erst zugeschickt hätte, „dann wäre der ganze Mist schließlich gar nicht erst passiert“. Die sozial-mediale Überforderung stand ihm mit hektischen Flecken ins Gesicht geschrieben.

Kulminationspunkte der Infantilisierung

Diese kleine Episode „unterm Tannenbaum“ steht für mich sinnbildlich dafür, was mich zwischen den Jahren und in das neue Jahr hinein beschäftigt hat. Es betrifft das eigene Erwachsenwerden, doch auch das Erwachsen im Allgemeinen und gleichzeitig meinen persönlichen Befund, dass die Menschen in den postmodernen Gesellschaften voranschreitend zu infantilisieren scheinen und sich dabei mehr und mehr von der Welt der Notwendig-, Zuständig- und Verantwortlichkeiten entkoppeln. Wir haben soeben eindrücklich dokumentiert bekommen, dass auch Mittsiebziger davor nicht gefeit sind, ich entdecke es nicht selten auch an mir, in meiner Umwelt, Du an Dir und um Dich herum möglicherweise auch und wir sehen, wie dieses Phänomen alle sozialen Schichten und Sphären der Macht bis hoch zu den Mächtigsten der Mächtigen durchzieht. Das Jahr 2018 begann etwa damit, dass Donald Trump und Kim Jong-un mit ihrer nuklearen Potenz prahlten – „mein Knopf ist größer!“, „nein meiner!“, „isch mach disch kaputt!“, „und isch disch!“ – und im Grunde hangelte sich das ganze Jahr von einem Hahnenkampf zum anderen, war es geprägt von den Irrationalitäten eitler Galane, was in der bloßen Draufsicht ja ganz lustig anmuten könnte, wenn es nicht eben doch primitiv wäre und obszön und tragisch, weil da so viele offene Fragen sind, so viele Krisen, so viele Baustellen und es eben unmöglich ist, auf das eigene Leben in dieser einen Welt nur draufzuschauen. Und damit sich unsere Empfindungen weiterhin im Erregungsdauerfeuer müde laufen, läutet der US-amerikanische Machthaber nun auch das Jahr 2019 mit der Ansage ein, dass ihm Europa total egal sei, Hauptsache, sie zahlen. Me first! Zweifelsohne ein Kulminationspunkt der Infantilisierung.

Die verschleppte Kindheit, eine kollektive Disposition?

Ich denke, das Korsett, das diesen verbreiteten mentalen Zustand der verschleppten Kindheit oder auch den Rückfall in kindliche Verhaltensmuster am besten fassen kann, ist das der „Mentalität“ im Sinne einer kollektiven Disposition. Eine solche meint einen Ausdruck von Verhaltensweisen oder auch Problemlösungsstrategien, die eine Gruppe von Menschen [also auch Gesellschaften] entwickelt, um großen gemeinsamen Anforderungen zu begegnen. Ganz anschaulich beschrieben sind diese Zusammenhänge in Han van de Horsts The Low sky – understanding the dutch. So finden wir dort das egalitäre Wesen des Niederländers, dessen Pragmatismus, Organisiertheit, seine gelebte Toleranz und Duldung beispielhaft als das Ergebnis eines kollektiven Kampfes gegen das Wasser erklärt, dem man das eigene Land abgetrotzt habe. Dieser „Kampf“ sei heute gerahmt von der historischen Erfahrung, dass man gemeinsam anpacken muss und – das empfinde ich als besonders spannend – dass man derartig starken Kräften nicht ausschließlich mit Gegendruck entgegentreten kann, sondern dass man sie zuweilen zulassen und auslaufen lassen muss, um sie handhaben zu können. Das Poldersystem und die Wasserschneisen hinein in das Deichhinterland geben Zeugnis ab von dieser Einsicht, sie bilden das Landschaft gewordene Abbild für so viele niederländische behavioural eccentricities, die man letztlich auf eine entwaffnend einfache Formel bringen kann: Was sich nicht verhindern lässt, das muss man erdulden und man muss dranbleiben! Unsere deutsche Mentalität verlangt hingegen nach klaren Regeln, Grenzen und Verboten. Das ist das Erbe unseres protestantisch geprägten preußischen Vielvölkerstaats. Das bekommen wir nicht so einfach aus dem Pelz geschüttelt und so ist es nicht verwunderlich, dass nicht wenige von uns, wenn sie einmal losgelassen, im benachbarten Land der scheinbar unbegrenzten Freiheiten ohne Maß und Haltung pennälerhaft alles wegrauchen, was nur im Entferntesten grün und botanisch anmutet. Lustig? Ich weiß nicht!

Wenn das Herz ein Heim sucht

Mentalität ist etwas Großes, daran rüttelt man nicht so ohne Weiteres, aber wenn da was ins Rollen gerät, dann müssen die Parameter, die wirken, sehr gewaltig sein. Wieder einmal: die globalisierte und vernetze Welt ist zwar gefühlt kleiner, dabei aber auch unüberschaubarer und für den Verstand schwerer zugänglich geworden. Gleichzeitig gehen Traditionen und Werte verloren, das Gemeinsame und Prägende. Das fällt einem gerade zu Weihnachten so auf. Man fällt aus der Zeit an einen Ort, den es so nicht mehr gibt und doch ist es eine Speicherstätte kultureller Eigenheit und wehmütiger Erinnerung. Vielleicht liegt dies auch in der Vielstimmigkeit der deutschen Volksseele begründet, dass wir zart und aus tiefster Sehnsucht aufatmen, wenn die Weihnachtszeit beginnt, aber auch befreit durchpusten, wenn sie wieder endet. Wieder Zeit für Normalität!? Wir wissen nicht so recht, wo wir hingehören. Unser Herz sucht ein Heim. Das Tröstende? Das geht nicht mehr nur uns so. Schaut nach Großbritannien, Italien, Frankreich – diese großen, mit Identität so prall gefüllten Nationen sind alle von der Rolle – und alles, was dort und bei uns passiert, ist in seinem Wesen infantil. Überhaupt, das ganze Populistische unserer Zeit ist ein rabulistischer Akt des Kindlichen – dieses Vereinfachende, das Narzisstische, das Trotzige und Skrupellose. Doch vermag dieser Trost zu beruhigen? Wohl kaum! Es bleibt zu hoffen, dass dieser um sich greifende Mangel an ordnender und besinnender Vernunft am Ende nicht dazu führt, dass auch bei uns die Menschen ihre Warnwesten aus den stillgelegten Dieselkombis kramen und ihre Nachbarschaft zu Klump hauen, weil alles so scheiße ist und scheiße bleibt, weil man ja ohnehin keinen Einfluss mehr habe, weil die da oben und überhaupt!

Das Schöpferische im Kleinen

Die da oben! Und die von anderswo! Das ist geblieben, das bleibt immer. Ein Tick Obrigkeitsskepsis als Überbleibsel der Aufklärung oder wahlweise Überwindung der SED-Diktatur, ein Tuck Skepsis gegenüber dem Fremden als prähistorische Wurzel des Arterhalts. Diese Mischung überdauert im canalis analis der Zeit. Alles weitere vaporisiert in absolute Form- und Strukturlosigkeit. Der Mensch der Postmoderne irrlichtert als entwurzeltes Kind frei von Geschichte und Kontext durch den luftleeren Raum seiner selbst zu gestaltenden Gegenwart. Dieses Schöpferische im Kleinen verbleibt als letztes Versprechen: die Bastelbiographie, die Orientierungslosigkeit als Tugend. Auch ich habe mir jahrelang eingeredet, dass mein Mangel an Prinzipien ein Spiegel geistiger Flexibilität und Signum meiner Selbstbestimmtheit sei. Am Ende stellt man dann fest, dass einem viele Dinge, die man für sich mal hätte regeln können, schlicht nur egal waren. Und das türmt sich dann auf, wie auf einem Dachboden und irgendwann bekommst Du die Tür nicht mehr auf und gelangst da gar nicht mehr hoch. Und wenn es doof für Dich läuft, wirst Du wieder den schlecht überschaubaren Kosmos dafür verantwortlich machen, Du wirst leiden am Ganzen, das zu groß ist, zu hoch und zu weit weg. Aus dem inneren Team Deiner Ego-States tritt dieses Kinder-Ich hervor und winkt, weil es überfordert ist, mal ist es traurig, mal trotzig. Dann stampft es zornig auf den Boden und sagt dabei so Dinge wie „ist mir doch egal!“

Erwachsen werden, teilen und lieben

Ich glaube, wir sollten damit aufhören, aufgrund einer irrationalen Angst vor dem Altern das Erwachsenwerden zu dämonisieren. Von mir aus können alle von 15 bis 55 Vollbärte tragen und ihr Haar ganzjährig mit Beanies verdecken, um aus ihrem biologischen Alter ein geheimnisvolles Mysterium zu machen, doch im Herzen müssen sie los- und die kindlichen Illusionen frei von Verbitterung hinter sich lassen. Erwachsensein bedeutet, dass die Suche nach der eigenen Identität auch mal abgeschlossen gehört, damit man fortan teilen kann und lieben. Erwachsensein bedeutet, dass man vom Basteln am eigenen Selbst irgendwann dazu übergehen muss, dieses Selbst, das ideelle und materielle Erbe, den Schatz der Erfahrungen und des Wissens weiterzugeben, sei es an die eigenen Kinder oder als Lehrer, Mentor oder Trainer an die kommende Nachwelt, die Jugend. Bei aller Progression und allem „weiter, immer weiter!“ gehört zum Erwachsenwerden dazu, dass man als Bewahrer bestehenden Sinns in Erscheinung tritt, dass man wertvolle Institutionen beschützt, die Gesellschaft festigt, die Traditionen und die Umwelt bewahrt. Man muss den Radius seiner persönlichen Wirksamkeit auf die Gemeinschaft ausweiten und das gelingt am Besten, wenn man seinen Frieden mit sich gemacht hat. Dazu gibt es keine Alternative. Wir können nicht nur unser Umherirren ästhetisieren, sondern müssen als Leuchtbojen sichtbar werden. Für die echten und nicht bloß gefühlten Kinder, die uns als Orientierung brauchen. Für sie erhob bei der Weltklimakonferenz in Kattovitz die 15-jährige Greta Thunberg ihre Stimme und sie klagte an, dass die Erwachsenen, die das Heft des Handelns in der Hand halten, den Kindern ihre Zukunft stehlen, und zwar direkt vor deren Augen; sie fordert ein, dass sich die Erwachsenen wieder erwachsen benehmen und sie glaube daran, dass die wahre Macht bei den Menschen läge. Daran möchte ich gerne glauben – bitte 2019!

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 15. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im Januar 2019.

 

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