Wenn Kunst zu krass ist …

... dann steht der Staatsschutz vor der Tür. 

#Kultur #Lokales #Kunst #Macht+Protest

Irgendwann im Dezember 2020 besprühte irgendwer eine Wand. Das ist weder ungewöhnlich noch sonderlich skandalös. Ebenfalls nicht neu ist, dass in Graffiti gesellschaftskritische und politische Botschaften enthalten sind. Das Mühlengraben-Grafitti hat allerdings eine öffentliche Debatte ungewohnten Ausmaßes ausgelöst. Mit einem Fraganschlag haben wir diejenigen zu Wort kommen lassen, die für das Graffiti verantwortlich sind: Die Künstler*innen selbst.

[Text & Fotos: Charlotte Karnasch]

 

Ein kleiner Ausschnitt aus dem viel diskutierten Graffiti am Mühlengraben in Göttingen

 

Tags und Graffiti, die in Nacht- und Nebelaktionen an öffentlichen Orten hinterlassen werden, gehören mittlerweile genauso zum Stadtbild wie Food-Sharing-Stationen und Gemeinschaftsbeete. An und für sich handelt es sich um eine plakative Form urbaner Kommunikation im öffentlichen Raum. Jemand hat etwas zu sagen und sei es nur ein: „Huhu, ich war hier!“ Da sind die Sprayer, die ihre Tags perfektionieren oder wahre Kunstwerke hinterlassen, mutige Passanten, die einen humorvollen Geistesblitz festhalten wollen, oder von Liebeskummer geplagte Teenies, die ihrem Schmerz Ausdruck verleihen. Bitter wird es, wenn rechte Parolen, frauenfeindliche Sprüche oder sonstige Widerlichkeiten öffentlich festgehalten werden. Wenn fremdes Eigentum dafür benutzt wird, um das eigene Mitteilungsbedürfnis zu befriedigen, dann gilt das allerdings als Sachbeschädigung und dafür kann man angezeigt werden. Sprich: Die Polizei beginnt zu ermitteln. So lief es auch im Dezember ab, als die großflächigen Graffiti an zwei Mauern in der Bürgerstraße entdeckt wurden. Anzeige wurde erstattet und sogar der Staatsschutz nahm die Ermittlungen aufgrund des Verdachts einer politisch motivierten Straftat auf. Das mehrteilige Graffiti sorgte also für eine hitzige Debatte, in der die Meinungen zum Erhalt und der Strafbarkeit desselben weit auseinanderklaffen. Ob darin nun ein offener Aufruf zur Gewalt oder schlicht eine Kritik an der Lokalpolitik erkennbar ist, bleibt Interpretationssache. Das Werk selbst diskutiert nicht. Die Bilder sprechen für sich. Es geht um die Flüchtlingsthematik, um Gewalt gegen Frauen und offene Systemkritik. Die wenigen Worte, die auf den Mauern zu lesen sind, haben Wucht: „Eure Gewalt hat System“, „Lagerabschaffung“, „Sicherer Hafen“, „My body my voice“ und eben diese: „Kommt Zeit, kommt Rat, Kommt Farbanschlag“.

 

 

Der Rattenfänger

Wer mit offenen Augen durch Göttingen läuft, kommt nicht umhin zu bemerken, dass viele andere Graffiti dem am Mühlengraben deutlich ähneln. Unter den Leinebrücken, auf Altkleidercontainern und vielerorts in der Innenstadt findet man Werke, die anhand der Motivauswahl und der Technik keinen Zweifel daran lassen, dass sie von den gleichen Personen gesprüht worden sind, die auch für das „Skandal-Grafitti“ verantwortlich sind. An der Fassade vom „Quick“ in der Nikolaistraße findet man etwa den „Rattenfänger von Hameln“. Dieser pfeift in der treuen Gefolgschaft seiner Nager gedankenversunken auf seiner Flöte.

 

 

Der Stil ist unverkennbar derselbe wie der des Mühlengrabenbildes. Diesen ausdrucksstarken Ratten begegnet man an so vielen Orten Göttingens, dass sie mittlerweile ein Teil des Stadtbildes sind. Es scheint als hätten sie sich irgendwann des Nachts einfach darin festgebissen. Also nennen wir die Künstler*innen jetzt einfach mal „Rattenfänger“. All jene, die vor dem Graffiti am Leinkanal standen, werden sich die Frage gestellt haben, wie es denn überhaupt sein kann, dass niemand etwas von dieser Riesenaktion mitbekommen hat. Wie lange muss es gedauert haben, solch detailreiche, bunte Bilder an die Gemäuer zu sprayen? Ein schlichtes „Schöne Scheiße, wahrscheinlich über Nacht“ ist alles, was der Rattenfänger darauf antwortet. Trotzdem liegt es nahe, dass eine lange Vorbereitungsphase nötig war und natürlich die richtige Technik.

Lange Vorbereitung und rasante Ausführung: Stencil

Der Rattenfänger arbeitet mit Schablonen, die er in mühevoller Kleinstarbeit fein säuberlich ausschneidet. Stencil-Art [Schablonenkunst] entstand in den 70er Jahren aus der Punkkultur heraus, wurde aber spätestens mit Banksy wirklich populär. Mithilfe von Sprühschablonen können so in aller Schnelle auch detaillierte und mehrfarbige Motive auf einen Untergrund gesprüht werden. Das ist ein klarer Vorteil, wenn man in einer Nachtaktion ungesehen großflächige Graffiti hinterlassen möchte. Ein weiteres Plus und auch die Erklärung dafür, dass man an so vielen Orten auf die selben Motive stößt, ist: Die Schablonen sind wiederverwendbar. 

Kunst, Sachbeschädigung oder gar eine Bedrohung für den Staat?

Die Arbeit des Rattenfänger beginnt aber nicht erst, wenn er die Sprühflasche in die Hand nimmt oder wochenlang Schablonen schnippelt. Sie beginnt mit dem Bedürfnis, den eigenen Gedanken und Idealen Ausdruck zu verleihen. Betrachtet man die Auswahl, Anordnung und Farbwahl seiner Motive, dann sieht man etwas Außergewöhnliches und so viele Inhalte, dass sie fast den Rahmen sprengen. Ob man seine Arbeit nun als Kunst bezeichnet kann, wurde schon hinlänglich diskutiert und vielerseitig bejaht. Er selbst bezeichnet seinen Stil als etwas zwischen „schlecht gemaltem Realismus bis hin zu surrealistischen Darstellungen zur Triggervermeidung“. In der Tat, lassen sich keinerlei Gewaltdarstellungen, Blut oder zwielichtige Symbole erkennen. Doch Kunst hin oder her, Anschlagsdrohung oder berechtigte Systemkritik – es geht um die Botschaft, die die Graffiti vermitteln, deshalb steht diese ganze Diskussion, die mehrere Monate lang rege geführt wurde, der eigentlichen Thematik bloß im Weg. 

 

Ein weiteres vielsagendes Werk des Rattenfängers unter der Eisenbahnbrücke an der Leine.  

 

Kommt Zeit, kommt Rat ... 

„Wut und Frustration, weil nichts verstanden wurde“, ist alles, was er bei dem Gedanken empfindet, dass die ganze Debatte um die Mühlengraben-Graffiti von vornherein auf das neue Rathaus gelenkt wurde, während die Themen, um die es ihm eigentlich geht, in den Schatten gedrängt wurden. Nach dem Anschlag im Jahr 2019 auf das Amtshaus, in dem Jobcenter und die Ausländerbehörde untergebracht waren, ist die Sorge vor einem weiteren Angriff nicht unberechtigt. Was empfinden wohl die damals betroffenen Mitarbeiter*innen beim Anblick des Graffiti und den Worten: „Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Farbanschlag“, die neben der Abbildung des Neuen Rathaus zu lesen sind? Sorge, Wut, Angst? Vor einem neuen Anschlag? Mit Farbe? „Das heißt ja nicht gleich, dass ich Bomben baue und auf Personen losgehe“, stellt der Rattenfänger klar und fügt hinzu: „Weil ich für das Leben und die Freiheit stehe, ist ein Amoklauf auch keine Lösung.“ Wir glauben ihm. Das liegt auch daran, dass er sein Ausdrucksmittel bereits gefunden hat: Schablonen und Farben. Der Rattenfänger ist auf der Hut, denn er muss jeden Tag und bei jeder Aktion mit einer Festnahme rechnen. „Im Großen und Ganzen rechne ich mit einer Freiheitsstrafe von mehreren Jahren“, sagt er. Trotz seiner eigenen Überzeugung, dass links von ihm niemand mehr stünde, will er weder der linken noch irgendeiner anderen Szene zugeordnet werden. Vielmehr entstehen seine Graffiti-Aktionen „aus dem eigenen Elend und dem Elend der Welt“ heraus. „Das Wandbild bleibt ein Spiegel gesellschaftlicher Ereignisse des vergangenen Jahres“, sagt er und bezieht sich damit auf den Brandanschlag auf das Amtshaus im Jahr 2019, die Ratten von Moria, die Black Lives Matter-Bewegung und die stetigen Meldungen ertrinkender Flüchtlinge im Mittelmeer. Die Aktion ist „auch emanzipatorisch, wenn sich Menschen dadurch weiterentwickeln“. Also schabloniert er diese Missstände unübersehbar in den öffentlichen Raum, um sie der Gesellschaft, die selbige zu verantworten hat, groß und bunt vor die Nase zu halten. „Es ging mir darum, Aufmerksamkeit zu erregen“, antwortet der Rattenfänger auf unsere Frage, ob die Aktion für ihn ein Erfolg war. Dann fügt er aber hinzu, dass die Stadt den Namen „Sicherer Hafen“ doch nur als „Feigenblatt“ benutze, um das eigene „Wegsehen“ auf das Drama im Mittelmeer zu verdecken. „Solange in Göttingen noch kein dauerhaftes Bleiberecht und kein Abschiebestopp gilt, kann die Aktion kein Erfolg gewesen sein, sondern lediglich ein Beitrag, den ich selbst geben kann.“ Hätte der Rattenfänger statt „Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Bombenattentat“ an die Mauer schabloniert, könnte man nachvollziehen, dass die Stadt Göttingen die Anzeige nicht zurückzogen hat. Aber wenn der Farbanschlag schon längst stattgefunden hat – nämlich auf den Mauern am Mühlengraben – muss man sich dann wirklich noch davon bedroht fühlen? Die ganze Aktion ist nun über ein halbes Jahr her, und das Interesse verblasst wie die Farben an der Mauer. Die öffentliche Diskussion wurde beendet, während das Graffiti bestehen darf und der Staatsschutz auf der Lauer liegt. Unser Hafen hier ist sicher und Göttingen um ein Stück Stadtgeschichte reicher. Im Mittelmeer ertrinken weiterhin Flüchtlinge.

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 26. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im August 2021.

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