Honeymoon und Hirnwixe

#Seelenleben #Narzissmus #LiebenLernen

Ich hatte das Gefühl, meinen Seelenverwandten gefunden zu haben, der sich in der Rolle des Traumprinzen auch perfekt zu inszenieren wusste. Wahr davon war nichts. Über die Beziehungshölle, durch die ich mit meinem Ex, einem pathologischen Narzissten, gegangen bin.

[Text: Christine Becker | Illustration: Roman Sawatzki]

 

 

Als das Messer, das er nach mir warf, zirka einen halben Meter neben mir in unserem Bett stecken blieb, stand ich ganz ruhig am Fenster und starrte in die Nacht. Es war mir egal. Ich wollte sowieso nur noch sterben. „Dir fehlt eh der Schneid dazu, Dich umzubringen“, hatte er mir hinterher gebrüllt, als ich mich einige Wochen zuvor – vollgepumpt mit Drogen und Alkohol – in mein Auto setzte, um mit Höchstgeschwindigkeit gegen den nächstbesten Baum zu donnern. Er hatte recht. Mir fehlte der Schneid. Erneut. Stattdessen kümmerten sich enge Freunde darum, dass ich schnellstmöglich Hilfe bekam und brachten mich in eine psychiatrische Klinik in Göttingen. Nur weg von ihm. Der Anfang vom Ende einer zweijährigen Liebesodyssee.

In den Himmel gehoben

Als ich meinen Ex-Partner Ende 2014 kennenlernte, schwebte ich auf Wolke 777 – so außergewöhnlich kam mir diese Verbindung zwischen uns vor. Ich war mir sicher, meinen Seelenverwandten gefunden zu haben, und fühlte mich so sehr geliebt und geborgen wie niemals zuvor. Wahrscheinlich hätte ich schon damals hellhörig werden sollen, als er mir von seiner Vergangenheit erzählte: den vielen Therapien und Klinikaufenthalten wegen seiner psychischen Verfassung und den krassen Drogenproblemen. „Ich leide unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die sehr schwer ausgeprägt und daher nicht therapierbar ist“, hatte er mir einst unter Tränen gestanden, woraufhin ich ihn in den Arm nahm und keine Ahnung hatte, was diese Diagnose bedeutet, und warum sie irgendetwas mit unserer großartigen Beziehung zu tun haben sollte. Ich erzählte ihm alles von mir, teilte alles mit ihm. Er bewunderte mich, diesen starken Menschen, der ich damals noch war. Meine Intelligenz, meinen beruflichen Erfolg, die vielen Freundschaften und Bekanntschaften, die ich hatte und pflegte, meine Lebensfreude. Meine Schwächen lächelte er weg und erkannte sogar darin Liebenswertes. Er idealisierte mich auf eine mir völlig neue Art und Weise. Seine scheinbar bedingungslose Liebe zu mir bestärkte mich in meiner Liebe zu ihm – und bestätigte ihn darin, der großherzigste Partner der Welt zu sein.

Aufwertung durch Abwertung

Als der Alltag nach mehrwöchiger Honeymoon-Phase Einzug hielt, bröckelte – von mir allerdings noch unbemerkt – peu à peu seine Maske und gab darunter den Blick auf einen zerstörerischen Menschen frei, der mittels Manipulation versuchte, mich auszubeuten, zu verletzen und zu erniedrigen, um sich selbst durch die Abwertung meiner Person aufzuwerten. Langsam aber beständig rückte er seine Wünsche in den Vordergrund und vereinnahmte mich und mein Leben derart, dass ich selbst keinen Platz mehr darin hatte. Anfangs machte mir das nichts aus. Hörte ich doch stets ein Lob für die Erledigung seiner delegierten Aufgaben, bekam immer einen Dank und manchmal auch phantastischen Sex. Immer noch benebelt vom Endorphinrausch der Verliebtheit verzieh ich ihm alles und erfüllte seine Forderungen mit Bravour. Schließlich wollte ich ihn doch glücklich machen, während er mich unbemerkt zu seiner Dienerin degradierte. Er habe schon immer die Puppen nach seiner Fasson tanzen lassen, hatte er mir irgendwann beiläufig und sichtlich stolz offenbart. Und jetzt sollte ich zu seiner Puppe werden – zu einem seelenlosen Spielzeug, das er sich nahm, wenn er bei Laune war und in die Ecke warf, sobald es lästig wurde. 

Die Puppen tanzen lassen

Meine Fehler und Schwächen gingen nun auch nicht mehr als liebenswerte Eigenschaften durch. Es hagelte täglich Kritik für mein Verhalten, das in der Regel mit Liebesentzug bestraft wurde. War ich jedoch so vermessen, mich gegen ihn aufzulehnen, beendete er oftmals ad hoc die Beziehung, um mich in meine Schranken zu weisen und bald darauf wieder vor meiner Tür zu stehen. Er spielte mit meiner ausgeprägten Verlustangst, begann meine Grenzen zu testen und zu verschieben. Daraus erwuchs in mir eine permanenten Angst: Angst, ihn zu verlieren, Angst bestraft zu werden, Angst vor Anfeindungen, Angst nicht zu genügen und zunehmend Angst davor, dass er nicht nur psychische, sondern auch physische Gewalt auf mich ausübte. Er spuckte mir ins Gesicht, schüttete mir Getränke über, katapultierte mich an Gliedern und Haaren durch die Wohnung und schlug mir einmal mit der Faust so fest ins Gesicht, dass ich Sterne sah und kurz das Bewusstsein verlor. Wiederholt bugsierte er mich ohne Handy, Geld oder Schlüssel aus unserer gemeinsamen Wohnung. Stundenlang irrte ich draußen umher oder schlief am nahen Leineufer. Zu Freunden oder meiner Familie konnte ich nicht gehen, weil ich mich schämte und den Kontakt abgebrochen hatte – auch weil er es so wollte. Um noch besser über mich zu herrschen und damit niemand von außen sein Spiel durchschauen konnte, sperrte er mich unter eine Käseglocke, zu der nur er Zugang hatte. Blind vor Liebe ließ ich ihn gewähren und wurde immer hilfloser, haltloser, krank. Ich konnte einfach nichts mehr richtig machen. Auch meine Festanstellung hatte ich längst verloren, was er mit Schadenfreude quittierte und schier erleichtert schien, für seine perfiden Anfeindungen endlich etwas in der Hand zu haben. Immerhin hatte nun sogar mein Arbeitgeber erkannt, dass ich ein „Nichts“ sei und immer alles falsch mache. Ich solle doch bitteschön froh und dankbar sein, dass er mich trotzdem nicht verlässt, weil er mich so sehr liebe und ich ohne ihn gar nichts mehr wäre, das stellte er wiederholt klar. Und ich glaubte ihm jedes Wort. 

Keine Liebe für niemanden

„Ein Narzisst ist jedoch gar nicht in der Lage zu lieben – weder andere und letztlich auch nicht sich selbst“, erklärt der österreichische Psychologe Dr. Reinhard Haller in seinem Vortrag Narzissmus in Partnerschaft, Beruf und Gesellschaft, den ich mir nach dem Ende unserer Beziehung gefühlt hundert Mal auf youtube angesehen habe. Viel zu spät erkannte ich, dass aus seiner vermeintlichen Liebe zu mir mittlerweile Hass geworden war. Er hasste das, was er aus mir gemacht hatte: ein labiles und ewig weinendes Häufchen Elend ohne beneidenswerte Eigenschaften. Am Ende hatte ich alles und mich selbst verloren und konnte ihm nichts mehr geben. Als er mich verließ, hatte er längst eine Neue. Dazu musste er nur die Reset-Taste drücken und sein Tape von vorne abspielen, während ich immer noch die Scherben meines Lebens zusammensammle und versuche, die Bruchstellen zu kitten.

 

 

JUST FOR THE INFO+JUST FOR THE INFO+JUST FOR THE INFO

Das ist Narzissmus

Unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung versteht man, laut des ICD-Schlüssels [internationale Klassifizierung medizinischer Diagnosen], eine andauernde und grundlegende Störung des Selbstwertgefühls. Dabei lehnt der Narzisst oftmals das eigene Selbst innerlich ab, während er sich nach außen übertrieben selbstbewusst gibt. Stets strebt er nach Aufmerksamkeit und Anerkennung und spiegelt sich in nahestehenden Menschen, die er bewundert, um deren Charakter zu kopieren. Schätzungen zufolge leiden etwa fünf Prozent der Weltbevölkerung unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung, mit der oft auch andere psychische Probleme und Erkrankungen, wie Alkohol- und Drogensucht, Angststörungen, Depressionen, Essstörungen oder psychosomatische Erkrankungen, einhergehen. 

 

Hirnwix-Knigge

Der krankhafte Narzisst verfügt über eine ganze Palette an Verhaltensweisen, die er geschickt einsetzt, um seine Ziele zu erreichen:

Sanfte Varianten: Ausspielen des Charmes und der Verführungskunst, Verteilung von Lob und Komplimenten, Überzeugen durch sachliche Argumente, rhetorisches Geschick, hartnäckiges Diskutieren und leichtes Manipulieren, Verwendung von versteckter Kritik, überzeugend klingenden Unwahrheiten oder Gerüchten

Leidende Varianten: bitten und notfalls auch betteln, um Verständnis und Loyalität einzufordern, ans Gewissen appellieren, Mitleid erzeugen, Krankheiten und Schicksalsschläge vorspielen oder übertrieben darstellen, schluchzen und weinen, beleidigt sein

Laute Varianten: fluchen, schreien, brüllen, kreischen, Wutausbrüche, Tobsuchtsanfälle

Härtere Varianten: kritisieren, drohen, beleidigen, einschüchtern, Vorwürfe machen, die Glaubwürdigkeit des anderen in Frage stellen, vor anderen schlecht machen, stures Schweigen, dem anderen keine Beachtung schenken, Ausgrenzung, Verachtung, Zynismus, Lügen, Spott, Sarkasmus, Intrigen, Zurückweisung von Schuld, Entwertung, anprangern, leugnen, verbales Verdrehen, emotionales Erpressen, bluffen

Varianten des Manipulierens: Tatsachen vortäuschen, mit falschen Fakten argumentieren, Zeitdruck aufbauen, nicht verstehen wollen, blockieren und ausweichen, Informationen filtern, schlechtes Gewissen einreden, Erklärungen verweigern, überzeugend falsche Behauptungen aufstellen

Varianten des Mobbens: ständiges Kritisieren, Verleumdungen, Unterstellungen, Kontaktverweigerung, schikanieren, quälen, seelisches Verletzen, abwerten, lächerlich machen, Gerüchte in die Welt setzen, Geringschätzung auch durch Mimik, Ausgrenzung

Weitere unangenehme Varianten: Stalking, querulantes Verhalten, Anonymographie [das anonyme Schreiben von E-Mails und Postings und Briefen], Rache, Bestrafung, Unterdrückung, physische Gewalt, Sadismus

Weitere Infos: www.umgang-mit-narzissten.de

 

Größenwahn versus Selbstzweifel

Narzisstische Anteile finden sich in der Persönlichkeit eines jeden Menschen. Der Übergang zum pathologischen Krankheitsbild ist fließend. In seinem Verlauf mutiert ein gesundes Maß an Selbstliebe zu einer destruktiven Form von Selbstsucht. Wie und wann Narzissmus krankhaft wird, erklärt uns die Göttinger Dipl.-Psychologin Gabriela Böhmer.

 

Woran erkennt man einen krankhaften Narzissten?

Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung fallen vor allem durch ihr ausgeprägtes Bedürfnis nach Bewunderung, ihre übersteigerten Vorstellungen über ihre Größe beziehungsweise ihres Wertes sowie durch ihren Mangel an Empathie auf. Sie fühlen sich sehr wichtig, was sich unter anderem daran zeigen kann, dass sie ihr persönliches Können und ihre Talente überschätzen oder dass sie stets erwarten als Sieger zu gelten. Häufig phantasieren sie über ihren großen Erfolg, ihre Macht und Schönheit. Dabei glauben sie fest an ihre Einzigartigkeit, weshalb sie sich nur selten verstanden fühlen und zumeist sehr arrogant auftreten.

Ist der Narzisst trotz Egozentrik, Empathiemangel und seiner ständigen Jagd nach Anerkennung überhaupt in der Lage, eine stabile und gesunde Paarbeziehung zu führen?

Narzisstische Persönlichkeiten haben fast immer auch eine Nähe-Distanz-Störung: Sie suchen und stellen Nähe her, weisen aber gleichzeitig starke Bindungsstörungen auf. Ihr zentrales Beziehungsmotiv ist Anerkennung. Sie wollen immer an erster Stelle stehen, sich geliebt fühlen und als Person positiv definiert sowie wertgeschätzt werden. Dies macht eine Partnerschaft, in der naturgemäß auch Probleme auftauchen, unterm Strich sehr schwierig. Der Narzisst ist zudem nicht in der Lage zu reflektieren, dass er selbst ein Teil des Problems ist und weiß daher auch nicht, wo er ansetzen soll, um das Problem zu lösen. Bei ausgeprägten Störungen sind Partner und Kinder dauerhaft einem Beziehungsklima ausgesetzt, das ihre Sicht auf die Realität verzerrt, was oftmals zu innerseelischen und/oder zwischenmenschlichen Spannungen führt.

Wieso entwickeln einige Menschen aus dem gesunden Narzissmus, den jeder in sich trägt, eine krankhafte Störung, und kann man diese heilen?

Bei der Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung geht die Wissenschaft derzeit davon aus, dass sowohl psychische, umweltbezogene und biologische Faktoren eine Rolle spielen. Studien fanden zudem heraus, dass Kinder von Eltern, die selbst an einer Persönlichkeitsstörung leiden – also dysfunktionale Überzeugungen über Beziehungen, Intentionen und Arten der Beziehungsgestaltung internalisiert haben – am stärksten gefährdet sind, da diese Muster durch die Erziehung weitergegeben werden. Haben narzisstische Persönlichkeiten selbst einmal Kinder, erwarten sie auch von diesen Bewunderung oder Leistungen, die ihr eigenes krankes Selbstwertgefühl stärken. Die Kinder werden permanent dazu angehalten, nicht ihre, sondern die Ziele ihrer Eltern zu erreichen. Erfolge werden dann mit überschwänglichem Lob gefeiert, Misserfolge mit harschem Tadel geahndet. Daraus entwickeln Betroffene parallel ein ausgeprägt positives sowie ein komplett negatives Selbstbild und wechseln zwischen diesen Extremen hin und her. Dass Menschen von anderen einfach um ihrer selbst willen geliebt werden können, ohne eine gute Leistung dafür zu erbringen, hat der pathologische Narzisst nie gelernt, dafür aber früh verinnerlicht, stets genau das Verhalten zu präsentieren, welches ihm die größtmöglichen Vorteile einbringt. Persönlichkeitsstörungen sind zwar durch eine Psychotherapie behandelbar, aber sie sind chronisch und in schweren Ausprägungen höchstwahrscheinlich nicht heilbar.

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 5. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im April 2017.

 

 

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