Destination Prokrastination? 

#Seelenleben #Arbeit+Leben

Ob Hausarbeit, Steuererklärung oder Bewerbungsschreiben – alles lässt sich aufschieben. Je wichtiger etwas ist, umso leichter fällt es. Frei nach dem Motto: „Komm ich heut' nicht, komm ich morgen. Morgen gilt dasselbe.“ Prokrastination: die Kunst auf Übermorgen zu verschieben, was vor Monaten schon dringend hätte erledigt sein sollen.

[Text: Andreas Steppan | Illustrationen: Sarah Elena Kirchmaier]

Eigentlich hatte ich diesen Artikel bereits für die vor-vorletzte Ausgabe ganz fest zugesagt und mit den Recherchen begonnen. Doch bis zum heutigen Tag brachte ich nicht ein einziges Wort zu Papier. Ich wollte mich nicht festlegen, spontan und flexibel bleiben. Schließlich interessiert man sich stets für die Themen, die einen selbst betreffen. Deshalb beruht viel in diesem Artikel auf meiner eigenen Erfahrung und sämtliche Schlussfolgerungen sind subjektiv. Diese blöde Angewohnheit, unliebsame Aufgaben vor sich her zu schieben, kennt wohl jeder. Doch einige wenige haben das Talent entwickelt, genau die Dinge als erstes anzupacken, die ihnen am meisten Angst machen: die Macher und Gewinner dieser Gesellschaft. Diese Menschen erledigen ihre Aufgaben termingerecht, als Punktlandung. Sie fangen spätestens an, wenn der Druck steigt, es aber andererseits noch realistisch ist, die Aufgabe zufriedenstellend fertig zu stellen. Wieder andere tendieren umso mehr zum Verschieben und zum Verdrängen, je größer der Druck wird und nehmen die damit verbundenen sozialen, wirtschaftlichen und manchmal sogar juristischen Konsequenzen in Kauf. Nicht zu vergessen: das schlechte Gewissen und Schamgefühl. Die Übergänge sind fließend. 

Prokrastination – Was ist das?

Prokrastination wird definiert als Arbeitsstörung, die durch unnötiges Vertagen des Arbeitsbeginns und/oder ständiges Unterbrechen des Arbeitsprozesses gekennzeichnet ist. Die Konsequenz ist, dass Aufgaben nicht oder nur unter starkem Druck fertiggestellt werden. Bei normalem Aufschiebeverhalten ist die unangenehme Folge, dass man regelmäßig in Stress gerät. Doch dieser ist zeitlich begrenzt und hat keine langfristigen Nachwirkungen. Zum wirklichen Problem wird Prokrastination erst dann, wenn wichtige Dinge regelmäßig nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht erledigt werden. Dies geht meist mit erheblichem Leidensdruck einher, da der*die Betroffene den Anforderungen zwar entsprechen will, ihnen allerdings aus undefinierten Gründe nicht gerecht werden kann. Und er erkennt das genau. Dennoch kann er nicht anders. Aufforderungen wie „Reiß Dich mal zusammen!“ oder „Du musst es einfach nur machen“ helfen ihm da nicht weiter. Das ist wie einem Magersüchtigem zu empfehlen, mehr zu essen. Es holt ihn nicht dort ab, wo er steht.

Faulheit, von Nicht-Betroffenen gern als möglicher Grund für Prokrastination aufgeführt, bietet auch keine Erklärung. Durch Aussagen wie „Selten war meine Wohnung so sauber wie zu den Zeiten, in denen ich eigentlich eine Hausarbeit hätte schreiben sollen“ wird klar, dass nicht nichts getan, sondern falsche Präferenzen gesetzt wurden. Prokrastinierende sabotieren sehenden Auges ihren eigenen Lebenserfolg, nehmen negative Folgen hin, die sie oftmals mit minimalem Aufwand hätten abwenden können und verpassen sämtliche Chancen, die sie sich eigentlich herbeisehnen. Warum? Schließlich scheint es sich dabei nicht um unterdurchschnittlich intelligente Menschen zu handeln. 

Wieso, weshalb, warum?

Über die Ursachen von Prokrastination gibt es verschiedenste Theorien. Manche sehen in ihr eine Folge von Angst vor dem eigenen Erfolg, andere eine Konsequenz massiver Versagensängste, wie z.B. Prüfungsangst, die uns lähmen. Wieder andere bringen die Aufschieberitits mit Hoch- und Minderbegabung oder ADHS und Depression in Zusammenhang. Letzteres ist zwar statistisch belegt, jedoch bezweifle ich persönlich, dass Depression die Ursache des prokrastinativen Handelns darstellt und vermute, dass es vielmehr andersherum ist: Prokrastination führt in eine Abwärtsspirale bis in die Depression.

Mangelnde Impulskontrolle oder falsche Präferenzen?

Mangelnde Impulskontrolle bedeutet, dass der*die Prokrastinierende kurzfristig angenehmere Handlungsresultate als deutlich attraktiver bewertet als langfristige, sehr positive oder negative Entwicklungen, die durch das eigene Handeln oder Unterlassen entstehen können: eine saubere Küche jetzt, anstatt gute Note in zwei Monaten. Woher das kommt? Genetische Determination? Unbewusste Imitation der Eltern? Trotz? Unzweckmäßige Sozialisation in Kindergarten und Schule? Viele Fragen, keine Antworten. 

In der Regel werden Aufgaben aufgeschoben, die für den Betroffenen mit Unsicherheit behaftet sind und ihm in gewisser Weise Angst machen. Sei es, weil diese selbst unstrukturiert sind oder der Handeln-sollende sich selbst nicht zutraut, die Herausforderung bewältigen zu können. Hier verschafft es etwas Linderung, sich einer angenehmeren Tätigkeit zu widmen. Je größer die Aufgabe ist und je länger der Abgabetermin noch entfernt ist, desto größer ist die Neigung des Aufschiebens. Allerdings steigt mit nahendem Ultimatum der Druck. Zum Glück hat man eine Verhaltensweise erlernt, mit der sich dieser reduzieren lässt: Man tut einfach etwas anderes, das einem leicht von der Hand geht. Ein Verhaltensmuster ist entstanden, das sich mit jeder Wiederholung verfestigt.

Nicht erwachsen sein wollen

Als Kind war jeder von uns abhängig von seinen Eltern. Damit war er in eine passive Rolle gezwungen, die mit einer Form der Nichtverantwortlichkeit verbunden war. Damals waren andere Personen für die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse zuständig. Manche Menschen haben im Laufe des Erwachsenwerdens nicht gelernt, die Verantwortung für ihr eigenes Leben und Glück in die Hand zu nehmen. Sie verharren in der passiven Rolle des Kindes und handeln erst dann, wenn die Umstände sie zwingen. Verbunden mit einer geringen Frustrationstoleranz und der Tendenz zur sofortigen Bedürfnisbefriedigung handeln Prokrastinateure nicht eigenverantwortlich und proaktiv, sondern lediglich reaktiv. Oder eben gar nicht, bleiben starr und lassen die Konsequenzen über sich ergehen. 

Unterdrückte Gefühle 

Dass einem bewusst-rationalen Ziel unbewusste Bedürfnisse oder Gefühle entgegenstehen, ist ein weiterer ernstzunehmender Ansatz, der die Aufschieberitis zu erklären versucht. Denn gerade in einer Gesellschaft, in der Rationalität das Nonplusultra ist, gelten Gefühle als etwas Negatives. Trauer darf nicht gezeigt und ausgelebt werden, Männer dürfen nicht ängstlich sein, Wut ist gefährlich und selbst Freude wird an vielen Stellen als komisch angesehen, indem glückliche Menschen als naiv abgestempelt werden oder ihnen unterstellt wird, nicht die gebotene Ernsthaftigkeit an den Tag zu legen. Es ist also kein Wunder, dass viele Menschen mit ihren Gefühlen hinterm Berge halten oder sie gar verdrängen. Man spricht hierbei auch von der Taubheitsschwelle: das ist die Grenze unterhalb derer sich unsere Gefühle der bewussten Wahrnehmung entziehen. Viele haben in unserer Gesellschaft das Fühlen verlernt und ihre Taubheitsschwelle durch exzessiven Medienkonsum, ständiges Ablenken oder auch Alkohol- und Drogenkonsum weit nach oben verschoben. Viele von uns haben die Verbindung zu sich selbst verloren. Doch die Gefühle beeinflussen uns auch, wenn wir sie nicht beachten. Wenn ich bewusst denke, ich möchte gerne Menschen kennenlernen, unbewusst jedoch Angst vor Ablehnung habe, kann ich mich vielleicht kurzzeitig unter enormem Kraftaufwand dazu zwingen, jemanden anzusprechen, doch früher oder später siegt die Angst und die Vermeidung beginnt. Ebenso verhält es sich mit unbewussten Glaubenssätzen, wie zu dumm oder zu faul zu sein. Oft in frühster Kindheit erlernt, steuern sie noch heute unser Verhalten, ohne dass wir dies überhaupt bemerken.

Wasch mich, aber mach mich nicht nass!

Nicht selten ist ein formuliertes Ziel sehr attraktiv, während der Weg dorthin demselben Menschen zutiefst widerstrebt. Wenn er sich dessen nicht einmal bewusst ist, muss er fast unwillkürlich in den Widerstand gehen. So ist beispielsweise ein hohes Einkommen, verknüpft mit einer steilen Karriere für viele Menschen ein durchaus erstrebenswertes Ziel. Aber das Büffeln für die nächste Klausur, deren Ergebnis zu einer entsprechenden Karriere beiträgt, erscheint meist weniger attraktiv. Es ist zwar sehr einfach, Lippenbekenntnisse für ein bestimmtes Endergebnis abzugeben, oft jedoch sehr schwierig, sich für den langen Prozess zu motivieren, der zu einem solchen Ergebnis führen könnte.

Was nun?

Es gibt viele Ratschläge, wie Betroffene mit dieser Problematik umgehen können, z. B. To-Do-Listen: hilfreich, funktioniert jedoch nach eigener Erfahrung nur sehr kurzfristig unter großem Druck. Allerdings lässt sich selbst die Erstellung solcher Listen höchst erfolgreich auf später, später und niemals verschieben. Verhaltenstherapeutische Ansätze setzen auf das Antrainieren verschiedener, den Arbeitsprozess unterteilender Handlungsphasen: Planungsphase, Handlungsvorbereitung sowie die Initiation der tatsächlichen Realisation. Genauso wichtig: den Workload realistisch einschätzen und so planen, dass es zu keiner Überlastung kommt. Vielfach wird auch die einfache Selbsthilfemaßnahme empfohlen, umfangreiche Aufgaben in überschaubare Teilaufgaben zu zerlegen. Manche Ratgeber legen nahe, Druck raus zu nehmen, um den Drang, etwas zu vermeiden, zu reduzieren. Andere hingegen fordern, den Druck zu erhöhen, indem man die eigenen Ziele bekannt macht. So würde man zum Handeln getrieben. Ablenkungen sollten generell so gut wie möglich ausgeschaltet werden. Doch der versierte Prokrastinateur überwindet solche Strategien ohne ein Achselzucken. Professionelle Prokrastinateure werden in dieser Gesellschaft zu Verlierern. Durch mangelnde Vorbereitung stehen sie auch in Standardsituationen meist im Abseits. Niemand wird sie jemals durch rationale Argumente dazu bewegen, sich in einer Welt erwartungsgerecht zu verhalten, in der es nur darum geht zu funktionieren, mitzuspielen. Es ist sinnlos, sie überreden oder zwingen zu wollen. Je mehr Druck ausgeübt wird, desto mehr Widerstand entsteht in ihnen. Sie wissen genau, was sie tun sollen und wahrscheinlich glauben sie auch, dass sie das wollen. Aber sie können nicht ins Handeln übergehen, wenn dem unbewusste Überzeugungen oder Gefühle entgegenstehen. Um etwas zu verändern, müssen sie sich ihrem Unterbewusstsein stellen.

Gehörst auch Du dazu?

Prokrastination macht krank, unzufrieden, einsam und depressiv. Sie ist jedoch nicht das eigentliche Problem, wenngleich sie problematische Folgen hat. Sie ist ein Symptom dafür, dass etwas grundsätzlich in Deinem Leben nicht stimmt. Der Weg aus dem Aufschiebeverhalten führt durch das eigene Innere hindurch. Es funktioniert nicht, sich noch mehr anzustrengen, sich noch mehr zu zwingen. Das hast Du bestimmt schon oft genug versucht. Setze dich mit Deinen Gefühlen sowie Glaubenssätzen auseinander! Frage Dich, was Du wirklich willst und warum Du es nicht schon längst lebst. Finde heraus, wovor Du Angst hast und stelle Dich Deinen Ängsten! Lebe Deine Wut, Deine Trauer und Deine Freude! Und nimm die Verantwortung für Dein Glück in Deine eigenen Hände! Nur so kannst Du die Starre, die Dich in Deinem Leben aufhält, hinter dir lassen, kannst wachsen und Dich entwickeln. Schließlich hast Du bestimmt noch viel vor, oder?

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 16. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im März 2019.

 

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