Summer of love

#Macht+Protest #Lokales #Drogen

Dass Frauen Hosen tragen und bärtige Männer mit langen Haaren Chancen auf Sex haben, verdanken wir den Hippies, die sich vor 50 Jahren mit Blumen im Haar und Acid im Hirn für eine friedliche Welt einsetzten. Doch was ist sonst noch übrig geblieben von den Idealen der 1968er-Bewegung? Sind die Hippies von damals gescheitert oder über sich hinausgewachsen, und kann diese Welt wirklich nur mit mehr Liebe gerettet werden? Mit diesen Fragen im Kopf hat sich unsere Autorin und Foto­grafin Marlin auf Spuren­suche begeben.

[Text & Fotos: Marlin Helene]

Was als 68er-Bewegung in die Geschichte einging, begann als Protestbewegung der Afroamerikaner in den USA, wurde größer und größer und richtete sich schließlich während ihrer Hochphase Ende der 60er Jahre gegen den Vietnam-Krieg. Auch außerhalb der Vereinigten Staaten bildeten sich Protest­gruppierungen, die zwar alle unterschiedliche Hintergründe und Ursachen hatten, aber ziemlich ähnliche Ziele anstrebten: Besonders junge Menschen wollten die Gräueltaten ihrer Elterngeneration im Zweiten Weltkrieg nicht länger hinnehmen, lehnten den Krieg generell ab und setzten sich für einen demokratischen Sozialismus ein. Auch in Göttingen gingen vermehrt Schüler*innen und Studierende auf die Straßen und demonstrierten sowohl für lokal relevante Themen, wie bessere Bildung und Aufklärung an Schulen, als auch gegen globale Probleme wie den Vietnamkrieg. Doch hier im platten Land bezeichnete man die Protestierenden nicht etwa als Studentenbewegung oder als Hippies. Man nannte sie Gammler.  

 Der legendäre Göttinger Trommler, DJ und Alt-Hippie Albi

 

Die Göttinger Gammler

Um nicht nur aus zweiter Hand, sondern auch von Zeitzeugen mehr über die 60er und 70er Jahre in Göttingen zu erfahren, traf ich mich mit einem Göttinger Alt-Hippie: dem legendären Trommler und DJ Albi. Von ihm erfuhr ich, dass die Hippie-Kultur erst ein paar Jahre später hier ankam. Beispielsweise brauchte in den Vereinigten Staaten neu erschienene Musik bis zu zwei Jahren, bis sie endlich auch in Deutschland erhältlich war, erzählt Albi. Dennoch war auch hierzulande etwas in Bewegung: Junge Menschen fingen damit an, sich gegen bestehende Strukturen und Konventionen zu wehren und rebellierten für  alternative Lebensweisen. „Wir wollten freier leben, selbst entscheiden und uns ausprobieren. Wir wollten uns anders kleiden, andere Musik hören, anders tanzen. Wir wollten uns anders lieben. Und das haben wir dann auch gemacht“, fasst Albi zusammen, der seinen Idealen bis heute treu geblieben ist und sie jeden zweiten und vierten Freitag im Monat auf seiner Rock gegen Rheuma-Party in der musa zelebriert. Allerdings hatte dieses „Anderssein“ während seiner Schulzeit auch Konsequenzen. Als „Gammler“ beschimpft zu werden, war da noch das Harmloseste, erinnert sich Albi, der damals auch gerne mal mit Rüschenärmel rumlief – auch wenn er deswegen verprügelt wurde. Von sowas ließen sich die „Göttinger Gammler“, die eigentlich Hippies waren, nicht einschüchtern und hoben sich weiterhin durch lange Haare, bunte Kleidung und, wie Albi verrät, dem Chillum-Tuch, das für eine spezielle Art des Marihuana-Konsums benutzt und in der Zwischenzeit plakativ am Gürtel getragen wurde, vom Establishment ab. „Damals konnte man Gleichgesinnte direkt als Brüder und Schwestern identifizieren“, schwelgt Albi in Erinnerungen. Heutzutage ist es nicht mehr so leicht, Gleichgesinnte auszumachen. Denn Blumen im Haar und das Peace-Zeichen auf dem T-Shirt bedeuten schon lange nicht mehr, dass man auch auf psychedelischen Drogen abfährt und freie Liebe in einer Kommune praktiziert. Ist von der Hippie-Bewegung von damals noch etwas übrig geblieben, und was machen die anderen Alt-68er jetzt? Hat der Spirit die Jahrtausendwende überlebt? Woran liegt es, dass außer Albi kaum noch Hippies von damals auf den Straßen von Göttingen auszumachen sind? Waren womöglich die vielen Drogen Schuld an ihrem Verschwinden? „Jeder Mensch sollte in seinem Leben einmal eine psychedelische Droge ausprobiert haben“, findet Albi. „Denn den meisten fehlt es im Allgemeinen an der Fähigkeit, mal aus einer anderen Perspektive auf sich und die Welt zu schauen.“ 

 

Die Schattenseite

Allerdings hatte der exzessive Drogenkonsum natürlich auch seine Schattenseiten: Bei so manchem Szenemitglied blieb es nicht nur beim Kiffen oder experimentellem LSD-Konsum zur Bewusstseinserweiterung. „Tatsächlich dauerte es leider gar nicht lange, bis hier die ersten Leute draufgegangen sind, weil sie dem Heroin verfielen“, gesteht Albi ein. „Damals wurde dann viel vom Goldenen Schuss geredet, aber da glaube ich nicht dran. Schließlich setzt der Goldene Schuss voraus, dass ein Mensch sich bewusst für den Tod entschieden hat, was ich mir bei meinen damaligen Bekannten so gar nicht vorstellen konnte. Sie waren nur Junkies, die aufhören wollten, aber  mit dem Entzug nicht klar kamen und sich schließlich doch wieder einen Schuss setzten – und zwar mit der gleichen Dosierung wie vor dem Entzug und das hält natürlich kein Körper aus.“ Allerdings hätten auch ziemlich viele Menschen in seinem Umfeld so starke psychische Probleme bekommen, dass sie Suizid begangen haben, fügt er hinzu. „Ich weiß gar nicht, wie viele Leute ich kenne, die vom Iduna-Zentrum gesprungen sind. Das waren sehr viele  …“

Psyche­delische Vernetzung

Diejenigen, die einen verantwortungsbewussten Drogenkonsum auslebten, hatten hingegen auch große Erkenntnisse. Steve Jobs soll seine Idee des Apple-Computers auf einem LSD-Trip gehabt haben. Eine LSD-typische Wirkung ist ein starkes Verbundenheitsgefühl mit dem Universum und das Zerfließen der Grenzen zwischen dem Ich und der Umwelt. Aus dieser Erfahrung heraus wünschten sich Hippies wie Steve Jobs eine Technologie, die eine globale Vernetzung von Individuen zustande bringen sollte, während sie unabhängig vom Staat und seinen Grenzen war. Heute profitieren weltweit Menschen davon, sich in Echtzeit mit der ganzen Welt vernetzen zu können, haben aber oftmals den ehrlichen und echten Zugang zueinander im Hier und Jetzt verloren. Dabei hätten die Hippies von heute – anders als die 68er – die bislang besten Möglichkeiten, ihre Forderungen und Wünsche in die Welt zu tragen. Zumindest im globalen Westen können wir unabhängig von Regierungen Informationen verbreiten und damit eine enorm kraftvolle Opposition zu den bestehenden Verhältnissen aufbauen. Beispielsweise sind die Aufstände des Arabischen Frühlings genauso entstanden und haben, besonders durch das Internet, eine globale Solidarität erfahren.

Love is the answer

Vielleicht  bezeichnet man die Hippies von heute nicht wie damals als Gammler, sondern als Ökos, Umweltaktivist*innen, linksgrüne Gutmenschen oder unverbesserliche Opti­mist*innen. Aber wie auch immer man sie nennt, es gibt sie noch, und ich bin auch so eine, die sich von den 68ern inspiriert fühlt. Es ist bereichernd, Geschichten aus dieser Zeit zu hören. Und es hilft mir, meinen Platz in der Welt zu finden. Ich bezeichne mich selbst viel lieber als Hippie, anstatt mich in die „Generation X, Y, Z“ einzuordnen. Und ich wünsche mir eine starke, solidarische und global vernetzte Protestbewegung nach dem Vorbild der 68er! Auch wenn viele gesellschaftliche, politische oder ökologische Fragen in den letzten 50 Jahren allgemein viel bewusster wahrgenommen werden, haben wir die Ziele und Forderungen von damals noch lange nicht erreicht. Mal ganz davon abgesehen, dass neue Probleme wie der Klimawandel dazugekommen sind. Ich möchte, dass wir uns weiterhin verbünden, alternative Lebenskonzepte ausprobieren und für eine bessere, gerechtere und friedlichere Welt kämpfen – egal, ob wir uns Hippies nennen oder nicht. Denn eigentlich spielt es keine Rolle, als was man sich bezeichnet oder wie man sich kleidet, welche Musik man hört oder wen man liebt, wichtig ist nur, wie man mit seinen Mitmenschen und seiner Umwelt umgeht, womit wir wieder bei der Liebe wären …

 

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 13. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im August 2018.

 

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