"Eine Welt Stadt Berlin" und das EPIZ wollen beide vor allem eins: eine gerechtere Welt. Mehr dazu auf dem weltwärts-Festival.

Weltwärts!

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Vom 31. Mai bis 4. Juni 2023 fand in Göttingen das erste weltwärts-Festival statt: Das Freiwilligendienstprogramm feierte sein 15. Jubiläum. Vertreter:innen Postkolonialer Theorien bezichtigen weltwärts der Fortführung kolonialer Hierarchien - vertraut man dem Festivalprogramm, will sich der Freiwilligendienst dieser Kritik stellen … 

[Text: Marie Bullerschen | Fotos: Eine Welt Stadt Berlin, EPIZ]

Vor 15 Jahren erblickte der entwicklungspolitische Freiwilligendienst des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [BMZ] das Licht der Welt. Als Name für das Neugeborene wählte das bundesbehördliche Elternteil den wortwörtlich richtungsweisenden Titel „weltwärts“. Seit diesem Tag können sich junge Menschen zwischen 18 und 28 Jahren für 6 bis 24 Monate, mitgefördert durch das BMZ, im Ausland engagieren. Ins Ausland – oder auch „weltwärts gehen“ –, das heißt für die meisten Bewerber:innen des Programms, ihren Freiwilligendienst im globalen Süden abzuleisten: Im Jahr 2022 entsendete weltwärts rund 90 Prozent der Freiwilligen aus Deutschland in ein entweder afrikanisches oder lateinamerikanisches Land. Seit 2013 bietet weltwärts außerdem die sogenannte „Süd-Nord Komponente“ an. Seitdem können auch Freiwillige aus Ländern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas, Osteuropas und Ozeaniens einen Freiwilligendienst in Deutschland ableisten. 

Am Tag seiner Geburt durften – es erinnert an die Launen eines Märchenkönigs – allerdings nicht alle Feen dem Neugeborenen ihre Wundergaben schenken. Keine Einladung erhielt die Postkolonialismus-Fee, die sich in den Folgejahren durch Sticheleien und Kritiken am weltwärts-Programm rächte. Der Vorwurf lautet[e]: Entwicklungspolitische Freiwilligendienste reproduzieren Hierarchien zwischen europäischen Ländern und Staaten des globalen Südens, die schon seit dem Kolonialismus bestehen. Im Jahr 2023, zum 15. Jubiläum des Freiwilligendienstes, sind scheinbar genügend Teller für alle Gäst:innen gedeckt. Fest eingeplant sind auf der Geburtstagsparty, die außerhalb des Reiches der Märchenmetaphern den Titel „weltwärts-Festival“ trägt, auch Programmpunkte, die eine postkoloniale Sicht auf Freiwilligendienste vermitteln sollen. Workshoptitel wie „Sind Freiwilligendienste noch zeitgemäß?“ oder „Bewusstes Weißsein“ scheinen die sogenannte „Postkoloniale Theorie“ in die engagementträchtige Praxis von weltwärts einpflegen zu wollen. 

Vier Jahrzehnte Postkoloniale Theorien

Aber was sind diese Postkolonialen Theorien überhaupt? Kurz gesagt ist damit eine Forschungsrichtung gemeint, die seit den 1980er Jahren Annahmen aufdeckt, die noch heute die Logik des Kolonialismus reproduzieren. Über Jahrhunderte dehnten europäische Länder ihre Herrschaftsmacht auf außereuropäische Gebiete aus, um diese vor allem ökonomisch auszubeuten. Auch nach der Erlangung formaler Unabhängigkeit ehemals kolonisierter Länder blieben zahlreiche wirtschaftliche und kulturelle Abhängigkeitsstrukturen bestehen, sodass noch heute zwischen vielen Staaten Europas und des globalen Südens ein Machtungleichgewicht besteht – man spricht auch von „kolonialen Kontinuitäten“. Das Präfix „post“ darf deshalb nicht dazu verleiten anzunehmen, der europäische Kolonialismus spiele im 21. Jahrhundert keine Rolle mehr. Statt der Feststellung eines zeitlichen „Danachs“ steckt in dieser essenziellen Vorsilbe vielmehr der Appell, besagte koloniale Kontinuitäten endlich zu überwinden. 

Postkoloniale Stimmen für globale Gerechtigkeit

Diesem Ziel gerecht zu werden – das haben sich die Verbindung „Göttingen Postkolonial“ und das Entwicklungspolitische Informationszentrum [EPIZ] zur Aufgabe gemacht. Das EPIZ setzt sich, so der „Eine Welt-Regionalpromotor“ Chris Herrwig, sowohl lokal in Göttingen als auch regional in Südniedersachsen für globale Gerechtigkeit ein. Konkret unterstützt das Informationszentrum Initiativen, Gruppen, Vereine und NGOs, die sich mit Themen des sogenannten „Eine-Welt-Bereichs“, also Themen wie z.B. Klimagerechtigkeit, geflüchtete Menschen oder fairer Handel, auseinandersetzen. Bei Göttingen Postkolonial steckt das Ziel bereits im Namen: Das Ziel des offenen Zusammenschlusses von Initiativen im Raum Göttingen ist die Förderung eines verantwortungsbewussten und rassismuskritischen Umgangs mit dem kolonialen Erbe in Göttingen und der Region. Der Zusammenschluss möchte damit kolonialrassistischen Kontinuitäten entgegentreten.

Auf dem weltwärts-Festival sind das EPIZ und Göttingen Postkolonial dazu eingeladen, ihre Expertise als Postkolonialismus-Feen mit der Geburtstagsgesellschaft zu teilen. Beispielsweise wird Sarah Böger, Mitbegründerin von Göttingen Postkolonial, mehrere „Postkoloniale Stadtrundgänge“ durch Göttingen anbieten, bei denen das koloniale Erbe einer Stadt im Fokus steht, die sich damit rühmt, dass sie Wissen schafft – an vielen Stellen jedoch verschweigt, dass die historische Wissenserzeugung unmittelbar mit der gewaltsamen Ausbeutung kolonisierter Gebiete zusammenhängt. Das EPIZ möchte seinem Anliegen durch einen Infostand Sichtbarkeit und Gehör verschaffen. Darüber hinaus beteiligen sie sich an den Vortrags- und Workshopangeboten des Festivals: Sarah Böger bietet beispielsweise einen Workshop mit dem Titel „Kritisches Weißsein“ an. 

Freiwilligendienste postkolonial kritisiert

Die Kritik an entwicklungspolitischen Freiwilligendiensten wie weltwärts bezieht sich in großen Teilen auf die mangelnde Reflektiertheit, mit der sowohl die Organisationen als auch die Freiwilligen selbst ihr „Jahr im Ausland“ betrachteten. Begriffe wie „Entwicklungszusammenarbeit“ erweckten, so Sarah Böger, den Eindruck, die Einsatzländer im globalen Süden stünden europäischen Staaten wie Deutschland in etwas nach – dieses „Etwas“ sei jedoch, abgesehen von dem unter anderem durch koloniale Herrschaft erzeugten materiellen Wohlstand, aus der Luft gegriffen [Anmerkung der Autorin: der Begriff „entwicklungspolitisch“ wird trotz seiner kontroversen Semantik im Folgenden weiterverwendet, da er von weltwärts selbst genutzt wird]. Nichtsdestotrotz würden Länder des globalen Südens häufig an europäischen Maßstäben gemessen und viele Freiwillige nicht reflektieren, aus welcher Position heraus sie agieren: aus der Position von in der Regel weißen, wohlsituierten Europäer:innen. Auch Chris Herrwig vom EPIZ sieht die Gefahr  einer Aufrechterhaltung im Kolonialismus wurzelnder, paternalistischer Haltungen, sowohl auf der Individualebene, auf der sich die Freiwilligen und Bürger:innen des jeweiligen Einsatzlandes begegnen, als auch auf staatlicher Ebene – europäische Länder gegenüber Staaten des globalen Südens. Eine Studie zur machtkritischen Analyse des Reverse-Programms von Daniel Skoruppa  verweist in diesem Zusammenhang auf die fehlende Beteiligung von Süd-Partner:innen bei der Süd-Nord-Komponente von weltwärts. Besagte Studie zeigt außerdem, dass eine geringere Zahl an Einsatzplätzen für Süd-Freiwillige, schwierigere Einreisebedingungen und häufig von Rassismus geprägte Alltagserfahrungen in Deutschland einem gleichberechtigten Austausch entgegenwirkten. Fragwürdig sei laut Sarah Böger auch, wer abgesehen vom Lebenslauf der meist unausgebildeten Freiwilligen von ihrem Engagement profitiere – die Bevölkerung der Einsatzländer sei es nämlich häufig nicht: „Die Freiwilligen haben oft keine berufliche Erfahrung, keine lokalen Kenntnisse und können, dadurch, dass sie nach einer gewissen Zeit wieder abreisen, nicht nachhaltig wirken.“ Vor Ort gebe es dagegen genügend potenzielle Fachkräfte, die mit der Bezahlung, die aktuell den weltwärts-Freiwilligen zugutekommt, dieselben Jobs produktiver ausüben könnten.

 Chris Herrwig [links im Bild] und Sarah Böger [ganz rechts im Bild] beim Postkolonialen Stadtrundgang

Sich selbst entwickeln – nicht mehr die Anderen

Sich gegen die Kritik am Konzept „Freiwilligendienst“ wappnend, hat weltwärts in den letzten Jahren einen diskursiven Burggraben um sein Programm gebaut. Während sich der Freiwilligendienst in den ersten Jahren seines Bestehens noch unter anderem als „Hilfsdienst“ verstand, liegt der Fokus seit ein paar Jahren auf dem „Lernen im gegenseitigen Austausch“. Im Mittelpunkt dieses „Lerndienstes“ stehen die Freiwilligen, deren Aufgabe es nun nicht mehr ist, andere, sondern in erster Linie sich selbst zu entwickeln: Herausbilden solle sich ein Bewusstsein für entwicklungspolitische Themenfelder. Darüber hinaus sollen sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland als „Multiplikator:innen“ für nachhaltige Entwicklung in ihr gesellschaftliches Umfeld wirken. 

Der ehemalige weltwärts-Freiwillige Freddy Claasen verkörpert das Profil des idealtypischen Rückkehrers perfekt. Die von ihm und einem Vorfreiwilligen initiierte Fußball-Jugendliga in Ruanda während seines Freiwilligendienstes 2018/19 geht dieses Jahr in die sechste Runde – ein Beispiel dafür, dass das Engagement der Freiwilligen durchaus nachhaltig wirken kann. Als ebenfalls nachhaltig erweist sich sein Freiwilligendienst bei einer ruandischen Nichtregierungsorganisation [NGO] für seine gegenwärtige Freizeitgestaltung. Sein Jahr in Ruanda habe, so Freddy Claasen, den Grundstein für sein heute breit gefächertes ehrenamtliches Engagement gelegt: Er ist Referent für die Vorbereitungs- und Auswahlseminare von weltwärts, hat eine Ausbildung beim Bildungsprogramm für Globales Lernen „Bildung trifft Entwicklung“ [BtE] gemacht und ist in verschiedenen Vereinen aktiv, darunter in dem von ihm mitgegründeten Ehemaligenverein von weltwärts. Der Zusammenschluss von weltwärts-Alumni setzt Bildungsprogramme in Deutschland um, die unter anderem Themen wie „Postkolonialismus“ und „Antirassismus“ einer jungen Zielgruppe unterbreiten. Im Rahmen seines Engagements für den Verein EWAKA Deutschland e.V. setzt sich der 23-jährige Lehramtsstudent außerdem für interkulturelles Lernen sowie die Bekämpfung kolonialrassistischer Stereotype an deutschen Schulen ein. Im Fall von Freddy Claasen lassen sich der von weltwärts beabsichtigte Lern- und Multiplikator:inneneffekt  also exemplarisch nachweisen. Aber hat weltwärts selbst – über die Neuausrichtung seiner Eigendarstellung hinaus – etwas dazugelernt?

 Freddy Claasen hat 2018/19 einen weltwärts-Freiwilligendienst in Ruanda gemacht.

Alles nur schöner Schein? 

Trotz der Bemühungen um einen dekolonisierenden Wandel, wird weltwärts noch immer aus postkolonialen Forschungs- und Aktivist:innenkreisen kritisiert. Wissenschaftler:innen wie Kristina Kontzi, Benjamin Haas und Zita Hoefer haben gezeigt, wie Rhetorik und Programmatik des Freiwilligendienstes auseinanderklaffen: Zwar sei die offensiv paternalistische Wortwahl „Hilfsdienst“ durch reflektiert anmutende Begriffe wie „Lerndienst“ und „Begegnungen auf Augenhöhe“ ersetzt worden – abseits der Öffentlichkeitsarbeit vertrete weltwärts allerdings noch immer dieselbe vielfach kritisierte Programmatik [siehe vierter Abschnitt].

Um das zu überprüfen, lohnt sich ein Blick hinter die Kulisse der weltwärts-Inszenierung: und zwar auf die Leitbilder einzelner Partnerorganisationen des Programms. Denn, vertraut man einem vielzitierten Sprichwort, ist eine Kette immer nur so stark wie das schwächste Glied. „weltwärts“ ist nämlich lediglich der Name des Freiwilligendienstes – entsendet werden erfolgreiche Bewerber:innen von einer 171 am Programm teilnehmenden deutschen NGOs, deren Selbstdarstellung teilweise stark vom vermeintlich dekolonisierten weltwärts-Sprech abweicht. Einer dieser weltwärts-Partner ist der ASC Göttingen von 1864 e.V., der zu den größten Sportvereinen Niedersachsens zählt. Als weltwärts-Partnerorganisation entsendet der Breitensportverein seit 2008 jedes Jahr Freiwillige aus Deutschland in Länder wie Namibia, Ruanda, Uganda, Südafrika und Sambia, wo diese sich in Projekten mit sportlicher Ausrichtung engagieren dürfen. Umgekehrt vermittelt der ASC Göttingen auch internationale Freiwillige an Partnerprojekte in Deutschland. 

 Das EPIZ informiert auf dem westwärts-Festival über koloniale Kontinuität bei Nord-Süd-Freiwilligendiensten

Reproduktion kolonialer Stereotype

Auf den ersten Blick schließt sich der Verein der Lerndienst-Rhetorik von weltwärts an. „Primäres Ziel“ des Vereins sei, so liest es sich auf der ASC-Website, „soziale und interkulturelle Kompetenz, Persönlichkeitsbildung sowie die Bildungs- und Beschäftigungsfähigkeit der Freiwilligen zu fördern.“ Klickt man sich weiter durch die Leitlinien des Vereins, stellt sich allerdings die Frage, inwiefern das Programm den bekundeten Ambitionen gerecht wird. Unter der Überschrift „Kriterien für eine Einsatzstelle“ springt der Satz „Die Einsatzstelle muss durch Armut oder Repressalien benachteiligten Bevölkerungsgruppen zu Gute kommen“ ins Auge. Als Einsatzländer für den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst kämen nämlich vor allem Staaten in Frage, welche die sogenannte DAC-Liste [Development Assistance Committee] als aktuell anerkannte „Entwicklungsländer und -gebiete“ aufführt. Die Ausreise in ein anderes Land ist zwar möglich – auf eine Finanzierung von weltwärts dürfen Freiwillige mit Extrawünschen allerdings nicht hoffen. Sport als geeignetes „Instrument in der Entwicklungszusammenarbeit“ begründet die Website des ASC Göttingen zudem damit, dass der Zeitvertreib mit Sport die Zeit einschränke, „zu Drogen zu greifen oder kriminell zu werden.“ Außerdem verhelfe der Wettkampf und das Erlernen sportlicher Fähigkeiten Kindern „mit einem schwierigen sozialen Hintergrund“ zu ansonsten seltenen Erfolgserlebnissen. 

Zwar gut gemeint – aber das ist es ja immer …

Freddy Claasen, der neben seinen vielfältigen Ehrenämtern auch als studentischer Mitarbeiter im Büro des ASC Göttingen jobbt, versichert, dass dennoch der kulturelle Austausch im Vordergrund stehe. Die auf der Website implizierte wirtschaftliche und soziale Benachteiligung der Einsatzgebiete wolle lediglich auf einen Vergleich zu vielen europäischen Ländern hinaus, in denen zum Beispiel das staatliche Sozialsystem in der Regel finanziell besser ausgestattet sei als beispielsweise in Ruanda. Außerdem sei der ASC Göttingen in den jeweiligen Einsatzländern stark bemüht, kolonialen Hierarchien entgegenzuwirken. So kämen als Projektpartner:innen vorrangig lokale NGOs in Frage. Die vom ASC Göttingen entsendeten weltwärts-Freiwilligen arbeiten also nicht für internationale – z.B. deutsche – NGOs, die in einem Land des globalen Südens aktiv sind, sondern engagieren sich an Stellen, die vom entsprechenden Einsatzland getragen werden. Außerdem herrsche der Anspruch, dass die Mentor:innen und Ansprechpartner:innen der weltwärts-Freiwilligen Locals sind.

Dennoch lässt sich daran zweifeln, wie naheliegend es für interessierte Bewerber:innen ist, sich beim Durchklicken der ASC-Website nicht als „Helfende“ zu verstehen, wenn Faktoren wie „Armut und Repressalien“ hinsichtlich der Einsatzländer- und Stellenwahl als ausschlaggebend erachtet oder „kriminell“ neben der „soziale[n] Benachteiligung“ als nahezu einziges Charakteristikum der zu betreuenden Kinder- und Jugendgruppen genannt werden. 

Weg mit weltwärts?

Dank diesem Mehr-Schein-als-Sein der „Lerndienst“-Inszenierung ist Chris Herrwig vom EPIZ der Überzeugung, dass weltwärts-Freiwilligendienste im aktuellen Format nicht mehr in Ländern des globalen Südens stattfinden sollten. Das ehrenamtliche Potenzial junger Menschen könne verantwortungsbewusster genutzt werden wie zum Beispiel durch die Ableistung von Freiwilligendiensten ausschließlich in Deutschland bzw. im europäischen Ausland. Auch in diesem Rahmen ergäben sich zahlreiche Möglichkeiten, verschiedene Lebensentwürfe kennenzulernen und – eventuell mit Hilfe kürzerer Aufenthalte in Ländern des globalen Südens – von diesen zu lernen. Statt frischgebackener Abiturient:innen sollten europäische Regierungen den ehemals kolonisierten Ländern Reparationen zukommen lassen, also Geldzahlungen, um für die erzeugten materiellen, kulturellen und emotionalen Schäden Verantwortung zu übernehmen. Sarah Böger von Göttinger Postkolonial schließt sich diesem Urteil an: Die Entsendung europäischer Freiwilliger in den globalen Süden falle eher in die Kategorie „Trostpflasterkleben“ – offenkundig ein Placebo, wenn man bedenkt, dass, so Sarah Böger, „Europa noch immer von der Ausbeutung von Land und Ressourcen“ profitiere.

Auch Freddy Claasen hat sich schon häufiger gefragt, ob sein Freiwilligendienst in Ruanda zwingend notwendig war, um sich in dem Ausmaß mit Themen wie „Postkolonialismus“ zu beschäftigen, wie er es seitdem getan hat. Nach seiner Erfahrung mit dem ASC Göttingen als Entsendeorganisation beschäftigen sich die Freiwilligen nämlich in zahlreichen Vor-, Nachbereitungs- und Zwischenseminaren mit Themen wie „Kolonialismus“, „Postkolonialismus“, „Antirassismus“ sowie auch mit der Kritik an weltwärts. Auch Chris Herrwig vom EPIZ bestätigt, dass die Begleitseminare der Freiwilligendienstprogramme – natürlich abhängig davon, wie progressiv sie gestaltet sind – durchaus „sehr viel transformatives Potenzial haben können.“ Freddy Claasen ist deshalb überzeugt: Er hätte sich ohne weltwärts wahrscheinlich „niemals mit Postkolonialismus“ auseinandergesetzt. 

Wachküssen muss weltwärts sich selbst 

Nimmt man diese Aussage ernst, gibt es Grund zur Hoffnung, dass angesichts der immer zahlreicher und vor allem sichtbarer werdenden Angebote, sich in Deutschland für eine gerechtere Welt zu engagieren, künftige weltwärts-Interessent:innen vielleicht eher einer lokalen Alternative eine Chance geben. Ein dazu passender Hinweis: Göttingen Postkolonial und das EPIZ bieten auch festivalunabhängig regelmäßig Veranstaltungen an. Wenn der Hauptgrund für einen Freiwilligendienst im globalen Süden nämlich der Wunsch nach postkolonialer Bildung ist, lassen sich so die Kosten von Ausreise, Unterkunft und Lebenserhaltung sparen – und für die Einsatzländer sinnvoller einsetzen. Dem Appell postkolonialer Initiativen folgend, sollten von Seiten europäischer Staaten anstelle der Entsendung unausgebildeter Freiwilliger wirksamere – und das heißt vor allem: finanziell effektivere – Maßnahmen ergriffen werden, um kolonialen Kontinuitäten entgegenzuwirken. Wie das große Potenzial junger Menschen [oder genauer gesagt: der weltwärts-Zielgruppe] sowohl im Hinblick auf ihre Kapazitäten, sich ehrenamtlich zu engagieren, als auch ihre Bereitschaft, sich mit dem [Post-]Kolonialismus auseinanderzusetzen, möglichst sinnvoll kanalisiert werden können, muss Teil eines breiteren Diskurses sein. Feststeht dabei: Ein Freiwilligendienst im globalen Süden sollte nicht der einzige Anreizpunkt bleiben, sich mit der kolonialen Vergangenheit und Gegenwart des globalen Systems zu beschäftigen. Die weltwärts-Festgesellschaft muss dafür, anders als an 15. Geburtstagen Spindel-affiner Märchenprinzessinnen, die Augen aktiv nach postkolonialen Perspektiven offenhalten und diese programmatisch – und nicht nur an der [Benutzer-]Oberfläche – konsequent vertreten.

 

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Wer sich lokal postkolonial engagieren möchte, kann sich dazu auf der Website von Göttingen Postkolonial und vom EPIZ informieren. Fürs Festivalprogramm am besten auf der weltwärts-Website vorbeischauen.

 

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