Pop Up [Play]
#Kulturtipps #Rezension #Theater #Lokales #Seelenleben #Macht+Protest
Wir befinden uns in einer Zeit der Merkwürdigkeit. Was man für sicher hielt, gerät ins Schwanken, wo man sich verwurzelt dachte, fühlt man sich plötzlich fremd, und was zuvor unmöglich schien, wird auf einmal als normal erachtet, während mancherorts links und rechts die Rollen zu tauschen scheinen. Haben wir es mit einer Gesellschaft der „Selbstgerechten“ zu tun, wie es die Politikerin Sarah Wagenknecht postuliert, oder mit einer „Generation beleidigt“ wie die Feministin Caroline Fourest konstatiert? Oder ist uns einfach nur der Sinn für den gesunden Menschenverstand und das richtige Maß der Dinge abhanden gekommen? Um in und an diesen Zeiten und ihren Widersprüchlichkeiten nicht zu verzweifeln, ist die heldenhaft-herrliche, gesellschaftskritische, selbstironische, liebe- und humorvolle Uraufführung „Pop Up [Play]“ im Deutschen Theater überaus hilfreich …
↑ Jenseits herkömmlicher, dramaturgischer Strickmuster und mit grandiosen stilistischen Mitteln: Pop Up [Play] im Deutschen Theater
Laut den beiden Regisseuren Bastian Dulisch und Gerhard Willert brauchen wir heutzutage vor allem zwei Dinge: Humor und Ambiguitätstoleranz. In ihrem Theaterstück „Pop Up [Play]“ haben sie sieben, von mit- und hinreißender Spielfreude erfasste DT-Schauspieler*innen philosophieren, fantasieren und sich verlustieren lassen. Dabei herausgekommen ist ein Stück über Gender, Antirassismus und diskriminierungsfreie Räume und die Frage, wie Letzteres in Zeiten wie diesen überhaupt noch möglich ist.
Ein Trainingscamp für Ambiguitätstoleranz
Allem Folgenden voran: Unter Ambiguitätstoleranz versteht man die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen zu ertragen – auch wenn sie schwer verständlich oder sogar inakzeptabel erscheinen –, ohne darauf aggressiv zu reagieren und anders denkende Menschen zu diskriminieren. „Erwachsen sein heißt entwickeln einer Ambiguitätstoleranz“, sagt Bastian Dulisch und diese Ambiguität sei elementar, denn: „Sobald ich mich festgelegt habe auf eine Sache, muss ich sofort feststellen, man kann sich immer nur annähern. Die Verabsolutierung des eigenen Standpunktes ist fatal.“ In ihrer Uraufführung, die Dulisch und Willert als Versuchsanordnung bezeichnen, wird klar: Jedes Beharren auf den Anspruch der einzig richtigen Wahrheit führt lediglich zu einer Zersplitterung der Gesellschaft in Partikularinteressen und diese Aufsplitterung verhindert, dass eine widerständige, wirkmächtige Bewegung gegen bestehende gesellschaftliche Missstände jedweder Art überhaupt entstehen kann. „Die einzelnen Opfergruppen werden immer kleiner und solidarisieren sich nicht miteinander, sondern sehen nur zu, dass ihr Stück am Kuchen etwas größer wird“, so Bastian Dulisch. Man könnte meinen, die gesellschaftszersplitternde Corona-Politik und ihre unfassbaren Ausmaße hätten die zwei dazu getrieben, dieses Theaterstück zu kreieren, doch an jedweder Eindeutigkeit sind die beiden Autoren, die ihr wunderbares Wortwerk auch als „Trainingscamp für Ambituitätstoleranz“ bezeichnen, nicht interessiert, denn: „Es ist tatsächlich so – Eindeutigkeit, Narzissmus, Egozentriertheit, Gewissheit, partikulare Gruppierung – die wohnen alle im gleichen Zimmer. Und da ist humorfreie Zone“, so Gerhard Willert. Dabei sei Humor eine subversive Möglichkeit des Menschen, genüsslich in der Wunde zu bohren – ein Erkenntnisproduktionsmittel sozusagen oder wie der Intendant des Deutschen Theaters Erich Sidler hinzufügt auch eine Überlebensstrategie.
↑ Jenny Weichert und Christoph Türkay als super sexy Liebespaar mit einem leidenschaftlichen Hang zu wortgewaltigen, philosophischen Diskussionen über die Fragen, wer wir sind, woran wir das festmachen und wozu das überhaupt gut sein soll.
Humor als Überlebensstrategie
Wir empfehlen allen Gefrusteten, denen es an Ambiguitätstoleranz mangelt und die kurz davor sind, ihren Humor zu verlieren, sich im Deutschen Theater „Pop Up [Play]“ zu Gemüte zu führen. Und allen anderen auch. Denn diese Versuchsanordnung spielt sich jenseits herkömmlicher, dramaturgischer Strickmuster ab, schreitet mit rasanter Dynamik voran und lässt nicht eine Sekunde Langeweile aufkommen. Es ist ein vortreffliches Vergnügen, die offensichtlich selbst vom Stück begeisterten DT-Schauspieler*innen dabei zu beobachten, wie sie in hitzigen Diskussionen wortgewaltig um diskriminierungsfreie Räume, gegenseitigen Respekt, Empathie und Toleranz ringen, um gemeinsam eine neue Welt zu erfinden, weil sie wissen: „Die Kälte macht uns kleiner, die Wärme dagegen größer. Steht auch bei Diderot.“
↑ Die elegant-charmante und mitunter auch larmoyant-süffisante Wächterin der politisch korrekten Wortwahl [„keine Tiervergleiche!“] Marina Lara Poltmann [Foto vorne] macht klar: Um bloß nichts Falsches zu sagen, kann man die zwischenmenschliche Verständigung nahezu bis zur Unmöglichkeit verkomplizieren, bis vielleicht bald aus Sicherheitsgründen kaum noch jemand mit jemandem spricht. Im Fotohintergrund: Anna Paula Muth, Florian Donath, Marina Lara Poltmann und Gaby Dey, die in der Versuchsanordnung stets darauf wartet, dass die Wirkung einsetzt, während sie selbst ihre Wirkung wie immer nicht verfehlt.
↑ Anna Paula Muths [Foto rechts] Mimik ist so verdammt gut, dass einem nichts anderes übrig bleibt, als mitzufühlen, was sie spielt. Rechts im Bild: Paul Trempnau, Florian Donath, Marina Lara Poltmann, Anna Paula Muth
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