Angst frisst Seele auf
#Macht+Protest #Seelenleben #Wohlbefinden #LebenLernen #Corona
Jeder Mensch hat Angst vor irgendwas, denn wer das Leben zu schätzen weiß, hat viel zu verlieren. Doch überall, wo Angst herrscht, gerät die Vernunft ins Hintertreffen. Warum wir Angst haben, wie sie instrumentalisiert wird und wieso sie ein wichtiger Wegbegleiter, aber kein guter Ratgeber ist, darüber sprachen wir mit dem Hirnforscher Gerald Hüther.
Die Lage ist offensichtlich ernst, denn wir sind umgeben von Angst und Schrecken. Die Angst vor dem Corona-Virus ist allgegenwärtig und allmächtig. Manche Menschen haben so große Angst, dass sie sogar einen Mundschutz tragen, wenn sie mutterseelenallein in ihrem Auto fahren oder einsam im Wald spazieren gehen. Gerald Hüther hat keine Angst vor Corona. Er setzt lieber auf die Stärkung seines Immunsystems und nimmt uns zur Begrüßung erstmal in den Arm. Dass wir uns damit schon irgendwie schuldig gemacht haben, ist in Hüthers Augen eigentlich ungeheuerlich, und wird später noch thematisiert. Es gibt viele Menschen, die diesen sympathischen Hirnforscher aus Witzenhausen geradezu vergöttern, doch seine eigene Zunft gehört nicht dazu. „Nachdem mir in den 90ern bewusst geworden ist, dass an einem Hirn auch noch ein Körper und ein soziales Umfeld dranhängen, die ich mit einbeziehen muss, wenn ich verstehen will, was im Oberstübchen passiert, war ich für manche anderen Hirnforscher kein richtiger Hirnforscher mehr“, erzählt der interdisziplinäre Neurobiologe gut gelaunt. Dass er kein Problem damit hat, mit seinen Positionen anzuecken, stellt er sogleich erneut unter Beweis, als er über die aktuelle Krise spricht: „Wahrscheinlich hätten wir den Corona-Virus gar nicht bemerkt, wenn es dafür keinen Test gegeben und die Medien ihn nicht dermaßen hochgespielt hätten. Vor zwei Jahren sind in Deutschland über 20.000 Menschen an der Grippe-Welle gestorben und kein Hahn hat danach gekräht. Doch aufgrund der Horrornachrichten, mit denen wir tagtäglich bombardiert werden, hat sich die Angst ja noch schneller in der Bevölkerung ausgebreitet als der Virus“, sagt Gerald Hüther und seufzt, während uns die Ohren sausen. Sein nächstes Buch, an dem er gerade mit Hingabe arbeitet, erscheint voraussichtlich im Oktober diesen Jahres und trägt den Titel Wege aus der Angst. Natürlich ist es kein Zufall, dass sich der Vorstand und Initiator der Göttinger Akademie für Potentialentfaltung in Zeiten wie diesen mit dem Thema Angst beschäftigt, aber das Wort Corona kommt in seinem Buch bisher nur in der Einleitung vor. „Ob man Angst hat oder nicht und wie man eine bestimmte Bedrohung bewertet, hängt nicht von den tatsächlichen Geschehnissen ab, sondern von den persönlichen Erfahrungen, die man bisher in seinem Leben gemacht hat, und von den Mitteln, die man zur Verfügung hat, um mit seinen Ängsten umzugehen“, sagt Gerald Hüther. Zu seinem neuen Buch bewegte ihn die Frage, was die Corona-Krise mit dem Verhalten der Menschen macht und warum sie die daraus resultierenden Einschränkungen ihrer Grundrechte weitestgehend ohne Murren befolgen. Die Antwort hatte er schnell gefunden: „Weil die Menschen Angst haben und diese Angst ist nicht gesund."
Warum wir uns vor der Angst in Acht nehmen sollten
„Die meisten Menschen, die uns in Angst und Schrecken versetzen, führen gar nichts Böses im Schilde, aber wissen selbst nicht, wie sie mit ihrer Angst umgehen sollen. Dann fragen sie Experten, die ihnen sagen, was zu tun ist“, stellt Gerald Hüther fest. „Zu dieser Gruppe gehören auch viele politische Führungspersonen, die es eigentlich gut meinen, aber aufgrund ihrer eigenen Ängste schlechte Entscheidungen treffen. Denn wenn ich die Menschen wegen eines Krankheitserregers in Panik versetze und dabei vollkommen außer Acht lasse, dass diese Angst unser körpereigenes Immunsystem so sehr schwächt wie kaum etwas anderes, dann habe ich quasi die Rechnung ohne den Wirt gemacht.“ Andauernde Angst macht krank, sie unterdrückt nicht nur unser körpereigenes Abwehrsystem, sie treibt uns auch oftmals in die Verzweiflung. Wenn man verzweifelt ist, droht alles im Bodenlosen zu versinken und die Verhältnismäßigkeit geht flöten. Deshalb sind Menschen, die Angst haben – allen voran unsere Politiker*innen, die eine große Verantwortung für das Wohl und Wehe ihrer Schäfchen, also uns, tragen – nur allzu gerne bereit, alles daran zu setzen, um diese virale Bedrohung irgendwie in den Griff zu bekommen. Komme, was da wolle, möge nur die Angst verschwinden! Angst ist eine der größten Geißeln der Menschheit. Hat sie sich einmal eingenistet, beginnt sie zu wuchern. Besonders tückisch: Das Gefühl der Angst existiert losgelöst von der tatsächlichen Bedrohung. Denn es liegt in der Natur des Menschen, sich von unvorhersehbaren, undurchschaubaren oder sogar unwahrscheinlichen Ereignissen mehr terrorisieren zu lassen als von wahrscheinlichen. Der Geängstigte tappt im Dunkeln und fühlt sich hilflos einer Macht ausgeliefert, die stärker ist als er selbst. „So kam es dazu“, sagt Hüther, „dass die Virologen aus dem Robert-Koch-Institut zu Alleinwahrsagern geworden sind, die den Politikern wie auch den Medienvertretern gesagt haben, wo es langgeht. Virologen können und sollen gerne forschen und ihre Ergebnisse veröffentlichen, denn das ist Wissenschaft, aber Prophezeiungen wie ‚Wir werden in wenigen Wochen 100.000 Corona-Tote haben‘ in die Welt zu posaunen, das ist keine Wissenschaft, sondern Panikmache.“
Im Würgegriff der Schuld
Erschwerend hinzu käme, dass es sich in Sachen Corona um eine besonders gemeine Form der Angst handele, weil dabei auch die Schuldfrage eine erhebliche Rolle spiele. „Als ich nach wochenlanger Kontaktsperre endlich mal wieder meine Eltern besuchen durfte, die in einem eigentlich wirklich schönen Altenheim leben, waren wir durch ein flatteriges Absperrband getrennt und ich kam mir vor, als wären wir im Knast“, sagt Gerald Hüther. „Aber wenn man sich über diese menschenunwürdige Praxis beschwert und fragt, ob man so ein Wiedersehen nicht ein bisschen angenehmer und menschlicher gestalten könnte, bekommt man das Totschlagargument vor den Kopf geknallt: ‚Wenn Sie Ihren Vater in den Arm nehmen, dann stecken Sie womöglich noch das ganze Heim an.‘ Dann ist natürlich Schluss mit Murren, weil man so etwas auf keinen Fall verantworten will.“
Mittel zur Macht
Das Schüren von Angst ist in vielerlei Hinsicht ein beliebtes Druckmittel für alle möglichen Zwecke. Es dient meist der Sicherung und Stärkung der eigenen Macht. Dabei ist die Anwendung uralt und die Botschaft immer gleich: Wer nicht pariert, dem passiert etwas Furchtbares. Der Staatstheoretiker und Philosoph Thomas Hobbes betrachtete die Verbreitung von Angst und Schrecken sogar als legitime Staatspraxis, die dazu diene, das Volk gefügig zu machen. Aber auch die Religionen drohen mit Fegefeuer, Höllenqualen und schlechtem Karma, so Hüther, und sogar die Werbung winke gerne mit Unheil, wenn man sich dem Konsum eines bestimmten Produkts widersetzt. Ohne Deo kann man sich praktisch nirgendwo mehr riechen lassen und wer nicht gegen jede Form des herannahenden Übels versichert ist, verlässt am besten gar nicht mehr das Haus, wo allerdings, statistisch gesehen, die meisten Unfälle passieren. Angst herrscht. Sie verkauft Zeitungen, bringt Wählerstimmen und treibt Politiker*innen zum Äußersten. Die Überdosierung des Schreckens hat uns mürbe gemacht, findet Hüther. In einer solchen Situation ist es natürlich leicht, Grundgesetze aus den Angeln zu heben und mit Drohnen öffentliche Plätze zu überwachen.
↑ Der Hirnforscher Gerald Hüther brachte und das Thema Angst auf die VONWEGEN-Terrasse mit, wo Claudius, Charlotte und Vanessa mit ihm sprachen.
Zur Vernunft kommen
Für Gerald Hüther scheint klar zu sein: Das Leben endet tödlich und bis es soweit ist, sollte man sich am besten damit abfinden, dass man nicht alles kontrollieren kann, egal, wie sehr man es versucht. „Wir sollten nun langsam mal erkennen und akzeptieren, dass Unsicherheit eines der wesentlichsten Merkmale des Lebens ist. Wir müssen einsehen, dass man weder das Leben noch die Menschen in einen Würgegriff nehmen kann, um in einer Art Machbarkeitswahn alles zu kontrollieren, denn das funktioniert nicht, weil nun mal nicht alles machbar ist.“ Ja, Corona ist ein reales Problem, aber es ist ein Problem unter vielen Problemen und zieht viele weitere Probleme nach sich: Tausende von Menschen sterben an Herzkrankheiten und trauen sich derzeitig nicht mehr, zum Art zu gehen. Fälle von häuslicher Gewalt nehmen überhand und Depressionserkrankungen sind auf dem Vormarsch, während wir womöglich auf die nächste Wirtschaftskrise zusteuern. Doch angesichts der Angst, mit der wir dem Corona-Virus gegenübertreten, verlieren wir sämtliche sonstigen essenziellen Probleme aus den Augen. „Die Art und Weise, wie wir unser Leben und unser Zusammenleben, auch das mit anderen Lebewesen gestalten, ist schon lange nicht mehr gesund. Wir müssen nun endlich einen neuen Weg des Miteinanders finden", sagt Gerald Hüther. „Es könnte sein und es wäre schön, dass die Menschen dank Corona damit angefangen haben, ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass sie nicht alles beherrschen können, was auf dieser Erde geschieht. Denn sonst wird diese Menschheit früher oder später zugrunde gehen. Bisher haben wir doch immer nur unsere Umwelt nach unseren Vorstellungen zurecht geschustert, damit wir möglichst wenig Angst haben müssen. Und nun sind wir – auch hinsichtlich des Klimawandels – an einem Punkt angelangt, an dem wir uns eingestehen müssen, dass die Welt nicht unser Untertan ist, und dass es immer wieder etwas geben wird, das uns Angst macht“, sagt Hüther und rückt seine Brille zurecht. „Es ist nun an der Zeit, damit aufzuhören, die Welt immer wieder neu nach unseren jeweiligen Vorstellungen gestalten zu wollen, sondern endlich damit anzufangen, ein Teil von ihr zu werden. Aber das geht nicht, indem wir darüber reden. Dazu müssten wir lernen, diese Lebendigkeit tief in unseren Herzen auch wirklich zu empfinden.“
PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 22. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im Juni 2020.
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