Die Antwort ist queer

#Seelenleben #Queer #Lokales

Wenn einem die Worte fehlen, um auszudrücken, wie man glaubt zu sein, dann scheint es schier unmöglich, zu der Person zu werden, die man ist. Liv brauchte 49 Jahre, um sich selbst beim Namen zu nennen. Hätte es schon damals ein „Queeres Zentrum“ gegeben, wie es gerade in Göttingen entstehen soll, wäre ihr viel früher klar geworden, dass sie kein Junge sein muss, nur weil sie auf Mädchen steht. 

[Text & Foto: Vanessa Pegel]

„Von innen fühlt es sich so an, als wäre ich eine Frau, aber von außen sehen die Leute etwas anderes“, sagt Liv und rückt liebevoll ihren Rock zurecht. Wenn man fast ein halbes Jahrhundert das Leben eines Mannes geführt hat, obwohl man sich nichts sehnlicher wünschte, als eine Frau zu sein, dann muss sich dieser Rock – der im übrigen hervorragend zu ihr passt – unfassbar gut anfühlen.

Einfach anders, aber wie?

Lange bevor es endlich dazu kam, dass Liv über 1.200 Euro für ihre Personenstandsänderung hinblättern durfte, verbrachte sie ihre ­Kindheit in der Gestalt eines Jungen in einem kleinen Dorf in der Nähe von Göttingen. „Damals konnte ich diese Diskrepanz, die ich in mir spürte, sprachlich gar nicht fassen. Ich hatte dafür keine Worte, ich hatte keine Vorbilder, ich habe nur gemerkt, dass ich anders war als andere Kinder.“ Ihre Ratlosigkeit darüber, dass es nichts gab, auf das sie sich hätte beziehen können, und niemanden, von dem sie hätte sagen können „so bin ich auch“, versteckte sie hinter einem ­generellen Rebelle­tum. Erst viele Jahre später fand sie heraus, dass es andere Menschen gibt, die sich ähnlich anders fühlen wie sie und sich als trans* bezeichnen. Das war zwar wie eine Offenbarung, aber ließ immer noch viele Fragen offen. „Damals stand ich ziemlich auf der Leitung und kam zu dem Ergebnis, dass ich wohl doch ein Junge sein muss, weil ich auf Mädchen stehe. Auf die Idee, dass es auch lesbische Mädchen gibt, bin ich überhaupt nicht gekommen“,  erinnert sich Liv und lacht.

Weiter ohne Worte

So gingen die Jahre ins Land. Liv machte eine Ausbildung zum ­Tischler, probierte sich in der Liebe aus und versuchte so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung. „Ich habe mich damals nicht getraut, meine Besonderheit zu zeigen. Dafür hätte ich schließlich erst Worte finden müssen und außerdem hatte ich natürlich Angst. Denn alles, was ich bis dato von Menschen wie mir – die also queer unterwegs sind – mitgekriegt hatte, war, dass sie verachtet wurden“, sagt sie. Wer sich outen wollte, musste dafür in die Großstadt. Doch da wollte Liv auf keinen Fall hin. Sie mochte dieses Dorf, in dem es unmöglich schien, sie selbst zu sein. Deshalb beschränkte sich ihr Trans*-Sein auf die seltenen Gelegenheiten, im geschützten Raum des Privaten die Klamotten ihrer Freundin anzuziehen oder mit Rollentausch herum zu experimentieren. „Aber als ich dann geheiratet habe und die Kinder kamen, spielte das überhaupt keine Rolle mehr“, stellt Liv fest.

Vergiss das Vergessen

„Ich habe mein Trans*-Sein wirklich auf die ganz lange Bank nach ganz hinten geschoben, weil es so viele gute Gründe gab, es zu ­ignorieren: meine Familie, mein politisches Engagement, meine Arbeit als Tischlermeister und später als Berufsschullehrer“, zählt Liv auf. Ihr gesamtes Umfeld schien ihr entgegen zu brüllen: Vergiss es! Hier brauchst du dich nicht damit zu zeigen! „Auf den Schul­höfen ist ‚schwul‘ das häufigste Schimpfwort und es gibt immer noch viele Leute, für die Trans*-Personen einfach das Letzte sind“, sagt Liv. „Deshalb habe ich versucht, das Ganze so gut es ging beiseite zu schieben.“ 49 Jahre hat sie durchgehalten. Dann konnte sie nicht mehr und brach zusammen. 

Wie Phönix aus der Asche

Nachdem Liv klar geworden ist, dass sie niemals zu demjenigen ­werden wird, der sie so viele Jahre vorgegeben hatte zu sein, nimmt sie sich nun endlich die Freiheit, als die zu leben, die sie schon immer sein wollte: eine besondere Frau, die nun ihr Inneres nach außen ­tragen kann und damit anderen Menschen, die ähnlich anders sind wie sie, eine Stütze ist. „Seitdem ich nach meiner schweren Krise ­wieder auf den Füßen stehe, habe ich mir mehrere Einsatzgebiete gesucht, in denen ich hilfreich wirksam werden kann“, sagt die heute 52-Jährige. Neben ihrem Engagement bei den LesBiSchwulen* Kulturtagen gründete sie zusammen mit drei anderen geschulten Berater*innen in den Räumlichkeiten der Göttinger AIDS-Hilfe eine Trans*-Beratung [kontakt@transberatung-goettingen.de], gibt in der Tischlerei der Beschäftigungsförderung ehrenamtlich Unterricht für Geflüchtete und gehört zu den Gründerinnen der Initiative „Willkommen Flüchtlinge am Klausberg“. Hier kümmert sie sich unter anderem auch um queere Flüchtlinge, die mit Mehrfach-Diskriminierung zu kämpfen haben, und fördert damit die Akzeptanz auch unter nicht-queeren Flüchtlingen. Darüber hinaus arbeitet sie gerade gemeinsam mit Johanna, Sarah, Simone, Clemens, Alexander und Denis an der Entstehung eines „Queeren Zentrums“ in Göttingen [siehe Seite 30]. „Wenn es schon damals so ein Zentrum gegeben hätte, hätte ich bestimmt nicht mehrere Jahre gebraucht, um herauszufinden, dass man gleichzeitig trans* und lesbisch sein kann“, sagt die zwei­fache Oma, die mittlerweile ihre erste Beziehung als Frau führt und mit ihrer Partnerin Martina und deren Kindern glücklich und zufrieden in der Nähe von Göttingen lebt. „Es fühlt sich an wie ein Sechser im Lotto, dass ich jetzt 24 Stunden am Tag Ich sein kann und in einem Umfeld lebe, in dem ich hundertprozentig akzeptiert werde, wie ich bin“, sagt Liv und ihre Augen strahlen – nicht nur wegen dem leichten Glitzer in ihrem Lidschatten, sondern von ganz tief innen heraus.

Den Horizont erweitern

„Natürlich habe ich schon mal darüber nachgedacht, mich umoperieren zu lassen – das tun, glaube ich, die meisten Trans*-Personen –, aber ich habe das für mich verworfen“, sagt Liv. „Mal ganz abgesehen von den Risiken, die eine medizinische Geschlechtsangleichung mit sich bringt, wie der Verlust von Empfindungs- und Orgasmusfähigkeit, ist es eben auch für meine Partnerin völlig okay, dass ich so bin, wie ich bin. Denn sie freut sich, eine Frau mit dem besonderen Extra zu haben.“ Auch die Einnahme von Hormonen kommt für Liv nicht in Frage, denn dann hätte sie vielleicht eine höhere Stimme, weniger Bartwuchs und eine weibliche Brust, aber eben auch kein befriedigendes Sexualleben mehr. „Doch viele Trans*-Personen leiden stärker als ich oder sind risikobereiter. Viele haben Glück und die Operation verläuft gut, aber leider gibt es eben auch viele, die mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind“, erläutert Liv, die natürlich auch Menschen berät und unterstützt, die eine Geschlechtsangleichung in Erwägung ziehen. Auch Inter*-Personen, die mit keinen eindeutigen Geschlechtsmerkmalen zur Welt gekommen sind, bekommen Hilfestellungen für ihre persönlichen Fragen. „Früher wurde in solchen Fällen schon im Kleinkindalter radikal operativ eingegriffen, um das Geschlecht eindeutig festzulegen, was viele Menschen gezwungen hat, etwas zu sein, das sie nicht sind“, weiß Liv. „Ich denke, wir müssen dringend unseren Horizont erweitern und anerkennen, dass der Übergang ­zwischen Frauen und Männern fließend ist.“ Ein „­Queeres Zentrum“ in Göttingen könnte dazu einen wichtigen Beitrag leisten. 

 

Glossar 

Bisexualität: das Nebeneinanderbestehen von hetero- und homosexuellen Neigungen

Cis-Gender [lat. diesseits]: diskriminierungsfreier Begriff für Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Das Gegenteil wird als Trans*-Gender bezeichnet.

Gender: Der aus dem Englischen stammende Begriff „Gender“ wird vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften verwendet. Er bezeichnet das „soziale Geschlecht“ im Gegensatz zum „biologischen Geschlecht“, also die sozialen Geschlechtsmerkmale und gesellschaftlich wie kulturell geprägten Vorstellungen von Geschlechter­rollen.

Heteronormativität: Zweigeschlechter-System ­(männlich / weiblich), das Heterosexualität als soziale Norm ­festschreibt. Die Folge davon ist, dass Menschen, die sich nicht als heterosexuell bezeichnen, Benachteiligungen erfahren.

Homosexualität: gleichgeschlechtliche Liebe

Inter* [lat.: zwischen]: Begriff, der sich aus Teilen der Community entwickelt hat. Er wird vermehrt als deutscher Oberbegriff für Intersexuelle, Intersex, Hermaphroditen, Zwitter, Intergender sowie inter- oder zwischengeschlechtliche Menschen verwendet. Das Sternchen soll stellvertretend für die Vielfalt dieser Gruppe stehen.

Intersexualität, auch Intergeschlechtlichkeit, Hermaphrodit, Zwitter: Menschen, die genetisch, anatomisch oder hormonell nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden können, beispielsweise weil sie mit körperlichen Merkmalen beider Geschlechter zur Welt kommen und damit im Widerspruch zu der zwei­geschlechtlich angelegten Gesellschaftsordnung stehen.

LSBTTIQ: Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle, Transgender sowie intergeschlechtliche und queere Personen

Queer: Der aus dem Englischen stammende Begriff hat einen enormen Bedeutungswandel hinter sich: Bezeichnete er ursprünglich – mit negativer Konnotation – Dinge oder Personen, die von der Norm abweichen (vgl. das deutsche „verquer“), wurde daraus zunächst ein Schimpf­wort für Schwule und schließlich ein von Homosexuellen mit Stolz verwendeter Begriff. Heute wird queer als ein übergreifender Sammelbegriff für alle Kategorien sexueller Orientierungen und Identitäten (s. LGBTTIQ) verwendet, die von Heteronormativität abweichen. Der Begriff ist eng verbunden mit der „Queer Theory“, einer Kulturtheorie, die den Zusammenhang von biologischem Geschlecht, sozialen Geschlechterrollen und sexuellem Begehren untersucht.

Trans* [lat.: jenseits von]: Begriff, der sich aus Teilen der Community entwickelt hat. Er wird als Möglichkeit ver­wendet, unterschiedliche Selbstverständnisse der Über­schreitung von Geschlechtergrenzen zusammenzufassen (Transsexuelle, Transgender usw.). Zu dieser Gruppe gehören zum Beispiel Personen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen nach der Geburt zugewiesen wurde, aber auch Menschen, die eine Einordnung des Geschlechts generell ablehnen. Das Sternchen soll stellvertretend für die Vielfalt dieser Gruppe stehen.

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 4. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im Februar 2017.

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