GRM. Brainfuck

#Kulturtipps #Theater #Lokales

Wir befinden uns in einem neuen Jahrtausend, das schäbig beginnt, erbärmlich fortschreitet und den Titel trägt: „ADHS – Wir ordnen den Scheiß jetzt neu.“ Es ist die Zeit von Facebook, der Sucht nach Likes von Unbekannten, die Zeit von Finanzkrisen, Fake News, Massenmanipulation, Mobbing, Sex, Verschwörungstheorien, des Zweifelns und der Verzweiflung – kurz: Es ist die Zeit von Brainfuck, wo sich zur realen Grausamkeit der Menschen auch noch die virtuelle dazu gesellt hat ...

Die Story nimmt ihren verhängnisvollen Verlauf im „fucking Rochdale“, einem kleinen Kaff in der Nähe von Manchester, wo die Hoffnung auf ein besseres Leben bereits gestorben ist. Dort leben die vier Jugendlichen Don, Karen, Peter und Hannah, die zu Freund*innen werden, nachdem sie von allen guten Geistern verlassen wurden.

Teuflisch gut: Rebecca Klingenberg, Anna Paula Muth, Paul Trempnau, Jenny Weichert

Don [seidensanft und eisenhart zugleich gespielt von Rebecca Klingenberg]
Gefährderpotenzial: hoch
Ethnie: unklare Schattierung von nicht-weiß
Interessen: Grime, Karate, Süßigkeiten
Sexualität: homosexuell, vermutlich
Soziales Verhalten: unsozial
Familienverhältnisse: 1 Bruder, 1 Mutter, Vater – ab und zu, aber eher nicht

Karen [schlau, sweet und sexy gespielt von Anna Paula Muth]
Sexualität: heterosexuell
Intelligenz: hochbegabt
Krankheitsbild: Neigung zu Zwängen [Lichtschalter ablecken]
Konsumverhalten: mangelhaft
Ethnie: Gendefekt
Familiärer Zusammenhang: 2 Brüder, alleinerziehende Mutter

Peter [mit schüchternem Charme gespielt von Paul Trempnau]
Diagnose: psychologisch auffällig
Gefährdergrad: nicht einzuschätzen
Sexualität: heterosexuell, eventuell
IQ: unklar
Ethnie: weiß, kaukasisch sagt man, oder?
Familienzusammenhänge: keine Geschwister

Hannah [kraftvoll und leidenschaftlich gespielt von Jenny Weichert]
Ethnie: asiatisch?
Sexualität: heterosexuell
Interesse: egozentrisch
Intelligenz: vorhanden
Herausragende Eigenschaften: keine
Familienzusammenhänge: Einzelkind, liebevolle Eltern

Als die rechtspopulistische Regierung ein Grundeinkommen einführt, von dem jedoch nur diejenigen profitieren, die dazu bereit sind, sich einen Chip implantieren zu lassen, auf dem sämtliche persönlichen und medizinischen Daten für die digitale Überwachung bereitgestellt werden, tauchen die vier gemeinsam unter und schmieden einen Racheplan.

„GRM.Brainfuck“ ist grausam, tut dolle weh und eignet sich nicht für zarte Nerven, denn die Romanvorlage stammt von der an Zynismus und derbster Weltanschauung kaum zu übertreffenden, überaus fulminanten Sibylle Berg. Deshalb schien das wortgewaltige Stück auch für so manchen Menschen im Publikum des Deutschen Theaters zu viel zu sein, sodass die furios-grandiosen DT-Schauspieler*innen leider nicht den Applaus ernteten, der ihnen unserer Ansicht nach doch so sehr gebührte. Denn diese tolle Truppe in Neon-Edelpunk-Outfits rissen uns von Anfang an in ihren Bann und feuerten ihre krassen Texte voller Hass wie Maschinengewehrsalven auf uns ab. Es dauerte nicht lange und ich empfand eine tiefe Liebe für diese Schauspieler*innen, die alles gaben und so viel Text gelernt haben, das mir schon bei dem Gedanken daran der Kopf platzt. Doch Sibylle Bergs Texte sprengen jede Party, weil sie so sehr unter die Haut gehen, dass sie sich abschälen möchte und das ist eben nicht jedermanns* Sache. 

Stimmen, die gehört werden wollen und es mehr als verdient haben: Bastian Dulisch, Jenny Weichert, Rebecca Klingenberg, Paul Trempnau, Marco Matthes

GRM: Schmutz, der sich in Schichten über Dingen ausbreitet

Die Inspiration für ihren dystopischen Brainfuck in einer rechtspopulistischen, digitalen Überwachungsdiktatur fand Sibylle Berg in der heutigen Wirklichkeit. Dazu sprach die preisgekrönte Autorin in Manchester mit Jugendlichen aus ärmsten Verhältnissen und ohne lebenswerte Zukunftsperspektiven und ließ sich den Soundtrack ihres Lebensgefühls um die Ohren donnern: Grime, eine britische Musikrichtung, die der Wut, die sie umtreibt, mit finsteren Basslines und Raps in aberwitziger Geschwindigkeit Ausdruck verleiht. Grime, laut Oxford Dictionary, ein „Schmutz, der sich in Schichten über Dingen ausbreitet“. Mit lakonischen Worten rechnet Sibylle Berg ab mit einem neoliberalistischen Zeitgeist, der soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit in Kauf nimmt und die Abgehängten mitleidlos in ihrem Leid zurücklässt.

Der 1972 in Berlin geborene Regisseur heißt Niklas Ritter und scheint genau wie ich ein großer Sibylle Berg Fan zu sein, ist es doch schon das zweite Wortwunderwerk, das er von ihr auf die Bühne gebracht hat. Nach seinem Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig arbeitet er als freier Regisseur und Videokünstler an Schauspielhäusern in Leipzig, Hannover, Köln, Frankfurt, Dresden, Berlin und – was für ein Geschenk! – am Deutschen Theater in Göttingen.

Das wundersam verwandelbare, clevere und wirkungsmächtige Bühnenbild von Kerstin Narr sperrt die Schauspieler*innen in einen Käfig, der ihr Leben ist, und schafft so eine perfekt brachiale Atmosphäre für die Wortgewalt der Sibylle Berg. Umso großartiger, weil es sich dabei um das allererste Bühnenbild handelt, das die 1979 in Berlin geborenen Theaterplastikerin sowie Bühnen- und Kostümbildnerin erschaffen hat. 

Summa cum laude

Was für uns ein klarer Fall von Standing Ovations war, wird nun leider wahrscheinlich schon sehr bald wieder von der Bühne des Deutschen Theaters verschwinden. Wahrscheinlich ist es für viele regelmäßige DT-Zuschauer*innen, die sich nicht so gerne den Appetit auf leichte Unterhaltung verderben lassen wollen, wohl zu schwere Kost. Allen anderen empfehlen wir sehr, ganz schnell zum Deutschen Theater zu rennen und sich eine Theaterkarte zu kaufen oder, als Studierende, Euer fantastisches Kulturticket zu nutzen! Zwei Chancen habt Ihr noch, und wenn’s voll wird, gibt es ja vielleicht noch weitere Vorstellungen von „GRM. Brainfuck“. Wir hoffen es sehr!

[Text: Vanessa Pegel | Fotos: Thomas Aurin]

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Weitere Infos und Tickets gibt's hier.

Fulminante Grausamkeiten zum Liebhaben: Rebecca Klingenberg, Marco Matthes, Jenny Weichert, Anna Paula Muth, Paul Trempnau

 

PS: Wer sich nicht vorstellen kann, dass Sibylle Bergs Dystopie schon jetzt ziemlich nah am wahren Leben dieser Jugendlichen dran ist, braucht bloß einen Blick ins Göttinger Tageblatt zu werfen: 

 

 

 

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