Das Leben in einer postmigrantischen Gesellschaft

#Kulturtipps #Bücher #Migration

Postmoderne, Postkolonialismus und jetzt auch noch postmigrantisch? Die Wissenschaft scheint es zu lieben, vor bekannte und mehr oder weniger vergangene Theorien das lateinische Adverb „post“ zu platzieren. Doch was hat diese Wortkreation im Hinblick auf Migration zu bedeuten? Das Buch von Naika Foroutan bringt mehr Licht ins Dunkel. 

[Text: Vanessa Bokelmann | Foto: transcript Verlag]

Die Migrationsforscherin Naika Foroutan stellt in ihrer Publikation „Die postmigrantische Gesellschaft: Ein Versprechen der pluralen Demokratie“ [2019] wegweisende theoretische Überlegungen auf. Hierbei soll weder ein „Ende der Migration“ vorhergesehen, noch Konflikte rund um Migration in Frage gestellt werden. Viel mehr geht es darum anzuerkennen, dass alle gesellschaftlichen Lebensbereiche in Deutschland massiv durch Migration geprägt werden. Dies gilt als Ausgangslage für die postmigrantische Analyse. Hier ist also kein Platz für sonst so beliebte Fragen wie „Ist Deutschland ein Einwanderungsland?“ oder „Gehört der Islam zu Deutschland?“, da die Antworten schon feststehen.

Naika Foroutan stellt heraus: „Migration ist also einerseits Auslöser gesellschaftspolitischer Debatten um Normen und Werte, dient aber andererseits dazu, die Aushandlung zentraler Wertedefizite in der Gesellschaft zu überdecken.“ So werden zum Beispiel in öffentlichen Debatten Probleme mit Antisemitismus, Sexismus oder Homophobie auf Migrant*innen übertragen, anstatt die Perspektive jenseits von Migration auf bestehende Macht- und Ungleichheitssysteme zu lenken, die sich nicht mit der Vorstellung von der im Grundgesetz verankerten Gleichheit decken. Im Vordergrund der Analyse steht das Paradoxon zwischen dem allgemeinen Konsens bezüglich gleicher Rechte für alle in einer vielfältigen Gesellschaft und des gleichzeitigen Nichtgewährens dieser Rechte im realen Leben. So befinden sich benachteiligte Gruppen immer wieder in Aushandlungsprozessen, in denen sie für Anerkennung, Teilhabe und Repräsentation kämpfen müssen. Aufgrund von Konkurrenz um Ressourcen oder dem vermeintlichen Verlust von Privilegien treten antagonistische Gruppen wie beispielsweise die AfD auf, die den polarisierenden Konflikten weitere Nahrung geben. Nach einer langen theoretischen Einleitung füttert Foroutan ihre Thesen entlang ihrer sechs Analysekategorien Anerkennung, Aushandlung, Ambivalenzen, Ambiguitäten, Antagonisten und Allianzen mit einer breiten empirischen Basis und einer ellenlangen Literaturliste.

Ja, das Buch ist genauso trocken, wie es klingt. Denn eins ist total klar: Diese exzellent erforschte und durchdachte Theorie und die Zusammenführung von verschiedenen analytischen Mitteln zur Perspektiverweiterung bezüglich der Migrationsgesellschaft und ihrer Erforschung ist ein ganz feiner akademischer Schmöker, der sich nicht leicht lesen lässt. Die hohe Dichte an Fremdwörtern und einbezogenen Theoretiker*innen, die einem um die Ohren gehauen werden, sind nicht unbedingt Bestandteil einer leichten Guten-Nacht-Lektüre. Zusätzlich mit der großen Transparenz bezüglich der Methodik, des Aufbaus des Werkes und dem total kreativem Einsatz von vielen schönen Diagrammen und Darstellungen, ist diese Publikation ein gewinnbringender Beitrag im staubigen akademischen Diskurs. Auch persönlich lässt das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft viel Raum, um gewohnte Denkmuster zu hinterfragen und sich weiterzubilden, wenn man anstrengende akademische Lektüre für sich entdeckt und lieben gelernt hat. Wer dies berechtigter Weise nicht von sich behaupten kann, der würde sich wahrscheinlich mehr durchquälen als tatsächlich Spaß beim Lesen von Naika Foroutans Buch zu haben. 

 

 

Am 01.11.2021 hat Naika Foroutan auf dem Göttinger Literaturherbst gelesen und diskutiert. Die Aufzeichnung findet Ihr in der Literaturherbst-Mediathek.

 

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