Viel Sein ohne Brauchen

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Ob das Frühlingserwachen in der Gestalt einer ewig wiederkehrende Pubertät oder als Metamorphose des Herzens daherkommt, hängt davon ab, wer man ist und was man daraus macht, stellte unser Kolumnist fest.

[Text: Herr Dunkel | Illustration: Roman Sawatzki]

 

 

Wenn sich in der Natur alles regt und zu wachsen beginnt, der Schnee schmilzt und viele Jungtiere geboren werden, die erst später, scheu und zaghaft die ersten Schritte aus der Geborgenheit ihres Baues unternehmen, so spricht man gemeinhin vom Frühlingserwachen. Dem Menschen, aus der Natur gar nicht mehr wegzudenken, ergeht es nicht anders. Frank Wedekind schrieb um die vorletzte Jahrhundertwende ein Jugenddrama, das eben diesen Namen trug – Frühlingserwachen – und von den Pubertätsnöten junger Heranwachsender zu berichten wusste. Der Zusammenhang erscheint konsequent: der Frühling als eine ewig wiederkehrende Pubertät, als Umbruch, Erwachen und Erweiterung des eigenen Aktivitätsradius, eine Metamorphose des Herzens vom schnöd’ zuckenden Muskel hin zum jauchzenden Empfindungsorgan.

Astronomisch betrachtet beginnt der Frühling in unseren Breiten mit der Frühling-Tag-und-Nacht-Gleiche. Zu diesem Zeitpunkt gleicht die relative zeitliche Erstreckung der Nacht der des Tages. Für die einen ist dies eine feine Sache, weil sie morgens nicht mehr das Gefühl haben, allein und von der Zivilisation abgenabelt im Zwielichte der andauernden Nacht zur Arbeit schlappen zu müssen [arbeitende Bevölkerung]. Für die anderen ist es weniger erquickend, weil sie nun morgens allein und von der Zivilisation abgenabelt, betrunken wie ein Kesselflicker im Hellen des keimenden Tages und sichtbar für all ihre Mitmenschen unter dem höhnischen Gezwitscher der Vögel nach Hause kriechen [Studenten]. So lässt der Frühling nicht nur sein blaues Band wieder flattern, sondern ist zudem ein durchaus zweischneidiges Eisen, das die Gesellschaft in Gewinner und Verlierer scheidet. Doch vor allem ist es ein jäher Auszug aus dem „da Drinnen“ in das Draußen. Von dem einen auf den anderen Tag ist er da, der Puderzucker auf der Seele. Schlug man gestern noch auf der Schwelle der Apotheke mit einem Beutel Pillen und Taschentüchern im Gepäck in all seinem Weltekel den Kragen seiner wetterfesten Allzweckjacke nach oben und beäugte die lebensfeindliche Umwelt mit Argwohn, lädt heute der pulsierende Lebensraum zur Erkundung der aufwallenden Daseinsfreuden ein. Elektrifizierend erscheint dabei die Gleichzeitigkeit, in der alles geschieht. Man wähnt sich unweigerlich als Teil einer höheren Ordnung. Mutter Sonne lacht auf uns herab, die Gänseblümchen recken sich, während wir in Boxershorts den ersten milden Kater genießen [Studenten]. Das Fenster steht weit offen, der Kaffee dampft, wir halten der grünenden Außenwelt in euphorischem Überschwang ein beinahe überrascht klingendes „Hallo!?“ entgegen.

Frühlingserwachen: irgendwo angesiedelt zwischen dem ganz großen Programm des Lebens als solches, als dessen Teil Du Dich wieder spürst, und einen dieser gnadenvollen kurzen Momente, die man ganz für sich alleine haben möchte, so exklusiv, dass man die ganze Welt ausschließen mag, so kostbar, dass man sie dem Vergessen entreißen möchte, es ist diese eine Stelle in einem wirklich guten Rocksong, die nur einmal auftaucht und dann nie wieder, ein kleines Aufbegehren der Leadgitarre zwischen zweitem Refrain und folgender Bridge [Germanisten]. Wenn wir verzückt auf die üppigen Blüten des Magnolienbaumes blicken, ist das der Lohn dafür, monatelang trockene Heizungsluft ventiliert- und depressiv in seinem Zimmer zwischen Vanille-Rooibos-Tee und Kerzenlicht gehockt zu haben, in dem Glauben, es sei behaglich [Lehramt].

Und dann gehst du nach Draußen und alle sind schon da, sie tragen Sonnenbrille und lassen die Bauchnabel durchatmen, sie klappen die Verdecke runter und liegen in den Parks, richten sich nach der Sonne aus und legen vereinzelt Partien ihres Körpers frei. Die Märzsonne macht braun! [Sport, BWL, Jura] Die Zeit der inneren Einkehr ist vorbei. Der Kokon sprengt auf und entlässt das Selbst in die unglaublichen Möglichkeiten des Draußen, wie Kopernikus, der die Käseglocke der geistigen Beschränktheit zerbricht und verzückt wissend in die Weiten des immer schon erahnten Kosmos’ blickt [Geschichte, Philosophie, Volkshochschule]. Und es riecht da draußen, wo in all der Kälte nichts zu riechen war, man kann die Luft förmlich schmecken – macadamisiert und an befahrenen Straßen in all dem hektischen Treiben mit Abgasschwaden zu einem beinahe mediterranen Flair zerduftend [Erasmusstudenten]. Ja, „süße wohlbekannte Düfte“ sie „streifen ahnungsvoll das Land“ und „von fern ein leiser Harfenton“, und er raunt Dir lakonisch zu: „Lächele mal, es steht Dir, schön Dich zu sehen, wo warst Du so lang? Willkommen zurück!“ [Menschenfreunde]

Beengt zwischen erstarrendem Winter und sengendem Sommer ist jene kurze Spanne des frühjährlichen Aufbruchs eine Enklave der Freiheit, die dort emporstrebt, wo sonst nur Abhängigkeiten klebrig ihren Tribut einfordern. Jetzt können wir so oder auch anders, mit oder ohne Jacke, wir können uns einen Menschen suchen, um mit ihm unser Leben zu teilen oder wir lassen es einfach bleiben, weil es sich gegenwärtig gut genug anfühlt, oder wir haben schon wen, na klar, wir bauen ein Haus, pflanzen einen Baum, wie es behagt – viel Sein in einer Zeit ohne Brauchen. „Frühling, ja du bist’s. Dich habe ich vernommen!“ 

 

PS: Dieser Artikel erschien erstmalig in der 5. Ausgabe des VONWEGEN-Magazins im April 2017.

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